Editorial Phase I

Open Codes. Leben in digitalen Welten

Peter Weibel spricht zur Eröffnung.

DIE WELT VERSTEHEN, IN DER WIR LEBEN.
DIE WELT VERSTEHEN, VON DER WIR LEBEN.
DIE WELT VERSTEHEN, DIE WIR BEWOHNEN.

Unsere Lebenswelt besteht heute zu wesentlichen Teilen aus einer künstlichen, von Menschen gemachten Datenwelt. Digitale Codes bilden den Zugang zu dieser Welt. So erscheint etwa beim Einschalten eines Mobiltelefons zunächst die Aufforderung: »Code eingeben …« und in Paris ist es üblich, sich durch die Eingabe eines Nummerncodes an der Tür Einlass in ein Haus oder einen Raum zu verschaffen. Codes bilden zentrale Schlüssel für den Zugang zu unserer analogen wie digitalen gegenwärtigen Welt.

Zu den ältesten Codes unserer Kultur zählen Alphabete und Zahlensysteme. In der Kommunikationswissenschaft bezeichnet ein Code im weitesten Sinne eine Sprache. Jegliche Kommunikation beruht auf dem Austausch von Informationen, die vom Sender gemäß einem bestimmten Code erzeugt werden und auf Empfängerseite gemäß demselben Code interpretiert werden. Allgemeiner gefasst basiert ein Code also auf einem Zeichenvorrat und bildet eine Abbildungsvorschrift für die eindeutige Zuordnung der Zeichen eines Zeichenvorrats zu denjenigen eines anderen. Beispielsweise werden dem Lautstrom der gesprochenen Sprache des Deutschen die 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets zugeordnet, um die gesprochenen Vokale und Konsonanten durch Schrift abzubilden. Dieser visuelle alphabetische Code aus 26 Buchstaben kann wiederum, unter Verwendung kurzer und langer Tonsignale, in einen Morsecode übertragen werden. Das wesentliche Merkmal eines Codes ist also die Übersetzbarkeit von einem Code in einen anderen. Erstaunlich jedoch ist vor allem, dass sich mit einer relativ kleinen Menge an Zeichen, also sowohl mit den 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets, als auch mit den drei Zeichen des Morsecodes (kurzes Signal, langes Signal, Pause) eine nahezu unendliche Menge an Sätzen produzieren lässt, das heißt eine potenziell unendlich große Informationsmenge codiert werden kann.

Morsecode

Die Signale des Morsealphabets werden mittels eines elektromagnetischen Schreibtelegrafen übertragen. Dabei lassen sich die Zeichen als Ton- oder Funksignal, als elektrischer Impuls über eine Telefonleitung durch Unterbrechung eines konstanten Signals mithilfe einer Taste, oder auch optisch, durch das abwechselnde Ein- und Ausschalten von Licht, senden. Der Morsecode besteht grundlegend aus zwei Zuständen (Signal oder Pause) und einer zeitlich variierbaren Länge der Signale. Dieses Übertragungsverfahren wird Morsetelegrafie genannt, nach dem bildenden Künstler und Erfinder Samuel Morse, der 1833 das erste Modell eines funktionsfähigen elektromagnetischen Schreibtelegrafen konstruierte. Anfangs ließen sich nur zehn Ziffern übertragen, die entsprechend einer Codierungstabelle in Buchstaben und Wörter übersetzt wurden (a = · –). In einer weiterentwickelten Form bot der standardisierte Morsecode die entscheidende Funktechnologie für die Seefahrt.

Blick in die Ausstellung »Open Codes. Leben in digitalen Welten«

Digitale Codes

Die digitale Kulturtechnik bildet aber auch die Grundlage für eine weitere Revolution, die vielleicht ein neues Zeitalter einleitet. Die bisherige Kultur basiert auf einer zweidimensionalen Notation: Ebenso wie die Schrift sind Noten, Zahlen und Zeichen auf Papier notiert und fixiert. Der Computer jedoch ermöglicht die Simulation eines bewegten dreidimensionalen Raums und somit eine zukünftige dreidimensionale Notation, derer sich schon heute Architekten und Designer bedienen. Das 3-D-Kino war der erste Versuch in diese Richtung, aber mit dem 3-D-Druck beginnt diese Zukunft nun Realität zu werden, durch die oben beschriebenen Möglichkeiten der reversiblen Transformationen. Dank der Entwicklung dieser Kulturtechnik, welche die Beziehung zwischen der Ding- und Zeichenwelt reversibel macht, werden wir in einer Umwelt leben, die von Sensoren und intelligenten Agenten gestützt, von Codes und Algorithmen geleitet und mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sein wird.

Dass dies möglich wurde, geht zurück auf »The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences«, die der Nobelpreisträger Eugene Wigner 1960 feststellte. Realität ist, was mathematisch repräsentierbar und elektronisch schaltbar ist. Das beste Beispiel hierfür bietet Claude E. Shannons Masterarbeit »A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits« von 1937. In dieser Arbeit bewies Shannon, dass die Boolesche Aussagenlogik mit den Wahrheitswerten 0 und 1 verwendet werden kann, um die durch elektrischen Strom betriebenen, elektromagnetisch wirkenden, fernbetätigten Schalter mit zwei Schaltstellungen zu steuern. Wie der Titel besagt, werden Stromkreise und Schaltkreise, Anordnungen von Relais und Schaltern, in einer symbolischen Analyse auf die Boolesche Aussagenlogik abgebildet. Die Boolesche Algebra wird also zur Schaltalgebra. Die von Shannon vorgeschlagene Verknüpfung der logischen Gesetze mit der Steuerung von Schaltkreisen, das heißt der Gebrauch der binären Eigenschaften elektrischer Schaltkreise (on – off, 1 – 0, Strom – Nicht-Strom) zur Ausführung logischer Operationen, wurde fortan für den Aufbau aller elektronischen digitalen Computer bestimmend. Shannon zeigte, dass die mentalen Formeln der Booleschen Algebra in materielle Schaltalgebra übertragen werden konnten. Formales Denken wurde in elektronische Schaltkreise – nach Regeln der Booleschen Algebra überführt. Die Elektronik wurde zur Physik der Mathematik!

Im Verbund mit der Entdeckung der elektromagnetischen Wellen durch Heinrich Hertz (1886–1888), das heißt der Erfindung der Telekommunikation (Telegrafie, Telefonie, Television, Radar, Rundfunk, Satellit, Internet) sowie der Entwicklung von Transistoren (1947), integrierten Schaltkreisen und Mikrochips wurde die Mathematisierung der Welt in den letzten einhundert Jahren in die materielle Welt der Elektronik übertragbar. Daher muss die Gleichung »Machinery, Materials, and Men« (Frank Lloyd Wright, 1930), die für das 19. und 20. Jahrhundert gültig war, für das 21. Jahrhundert um die Gleichung »Medien, Daten und Menschen« (Peter Weibel, 2011) erweitert werden. Seitdem der alphabetische Code durch den numerischen Code ergänzt wurde, stellen Algorithmen ein fundamentales Element unserer sozialen Ordnung dar.

Das Konzept der Ausstellung – ein bildungspolitisches Experiment

Mit circa 200 künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten soll die Welt der digitalen Codes und der von ihnen beeinflussten künftigen Lebensformen in acht Bereichen dargestellt werden: #GenealogieDesCodes, #Codierung, #MaschinellesLernen, #AlgorithmicGovernance, #AlgorithmischeÖkonomie, #VirtuelleRealität, #Arbeit&Produktion und #GenetischerCode. Die präsentierten Werke bieten Ihnen die Möglichkeit, eine ungewöhnliche Form der Auseinandersetzung mit der Kunst zu erproben und den Ausstellungsbesuch selbst ein Stück weit neu zu definieren. Anders als bei der vertrauten Rezeption von analogen Gemälden, Skulpturen oder Installationen, erschließt sich der Bedeutungshorizont der Werke erst im Prozess physischer Interaktion zwischen BetrachterIn und Werk. Die Partizipation des Publikums ist der Moment, in dem die Werke materiell entstehen. Somit schließt die partizipatorische und analytische Auseinandersetzung mit den Werken neue Formen der Konzentration, Meditation, aber auch der Zerstreuung mit ein. Der »Discours« der Ausstellung ist als architektonischer »Parcours« angelegt, um Ihnen die Gelegenheit zu bieten, selbstbestimmt sowohl zwischen Inseln der Kunst und des Wissens zu wandeln als auch an den sogenannten Work Stations aktiv und kreativ zu werden. Neben den Co-Working-Stations können Sie auch Orte der Ruhe und Rekreation finden. Da sich die Werke erst bei längerer Verweildauer erschließen, stehen Ihnen zudem freie Getränke und Snacks zur Verfügung. Die Ausstellung wird – bei freiem Eintritt! – als eine Mischung aus Labor und Lounge erlebbar, als Lernumgebung und Parkoase zugleich.

So weichen in dieser Ausstellung architektonisches Konzept und Szenografie stark von der gewöhnlichen Museumsarchitektur als White-Cube ab. Studio-, Labor-, Büro- und Wohnelemente wechseln einander ab. Das Museum als Commons: Das Museum wird zu einer Open-Source-Community, in der die Menschen gemeinsam kompetenter, kreativer und kenntnisreicher werden. Einerseits soll die Architektur eine Maker- und Co-Working-Space-Atmosphäre hervorrufen, andererseits sind die Wände so gestellt, dass sich organische Formen ergeben.

Das Museum wird zum Ort von BürgerInnenbildung, in dem die Aneignung von Wissen nicht nur lohnenswert ist, sondern auch belohnt wird. Denn die eigentliche Botschaft des digitalen Wandels lautet: Die Gesellschaft von morgen wird sich von einer Arbeits- zu einer Wissensgesellschaft wandeln (müssen). Daher fordern wir für das 21. Jahrhundert bezahlte BürgerInnenbildung! Wir brauchen in Zukunft kulturell kompetente BürgerInnen, um die Demokratie verteidigen zu können.

Die ZKM | Museumskommunikation hat daher innovative Konzepte des Lernens mit dem Ziel entwickelt, die spannende Welt des digitalen Codierens allen Altersgruppen zu eröffnen. Kleinkindern, Groß(-Eltern), HackerInnen, KünstlerInnen, InformatikerInnen wie Coding-AmateurInnen bietet das weitgefächerte Vermittlungsprogramm das passende Format: Direkt in den Ausstellungsräumen können Sie das digitale Codieren zusammen mit engagierten AkteurInnen aus Karlsruhe und ZKM-MitarbeiterInnen theoretisch und praktisch erkunden – sei es in Workshops, Partys, Camps, Algoraves, Science-Slams, experimentellen Führungen oder Programmierkursen.

Peter Weibel

 

[1] G. W. Leibniz, in einem Brief an Rudolph August, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, sog. Neujahrsbrief, 12. Januar 1697.

[2] Deutsch: »Wort und Gegenstand«, 1980.

[3] Deutsch: »Die Ordnung der Dinge«, 2003.

[4] Ludwig Wittgenstein, »Tractatus logico-philosophicus«, 1921, Satz 5.6.

[5] Galileo Galilei, »II Saggiatore« (1623), Edition Nazionale, Bd. 6, Florenz 1896, S. 232.

[6] Deutsch: »Die mathematische Analyse der Logik«, 2001.