Ein Mann mit einer Affenmaske spricht in eine Mikrofon

05.12.2013

Peter Weibel - global aCtIVISm

Der neue weltweite Aktivismus der BürgerInnen ist eine Folge der Globalisierung und der technischen Entwicklung. Die Globalisierung vollzog sich in zwei Phasen: erstens in der industriellen maschinengetriebenen Revolution seit 1800 und zweitens in der datenbasierten Informationsrevolution seit 1900. Die Digitalisierung, der Übergang vom alphabetischen zum numerischen Code, lieferte die technische Basis für eine enorme Personalisierung der Medien und Vernetzung der Individuen. Jeder Mensch wurde zum Sender. Durch die sozialen Medien entstanden neue horizontale und transversale soziale Strukturen.

VON PETER WEIBEL

Die Menschen leben nicht mehr in einem „small-data“-Environment, in dem der Austausch des Menschen mit seiner Umwelt auf wenige Daten begrenzt ist, sondern in einem „big-data“-Environment, in dem dieser Austausch beinahe im Sekundentakt stattfindet. Im Reiz-Reaktions-Schema zwischen Mensch und Umwelt hat nicht nur die Datenmenge zugenommen, auch die Frequenz hat sich enorm erhöht.

Im krassen Gegensatz zu diesem täglichen Erleben des wechselseitigen Einflusses von Mensch und Umwelt durch die neuen Technologien hat der/die BürgerIn in der repräsentativen Demokratie nur alle vier Jahre die Möglichkeit, mit dem Stimmzettel Einfluss auf die großen Themen der Politik zu nehmen. In der technisierten Lebenswelt des 21. Jahrhunderts kommt es zu so grundlegenden Veränderungen sowohl der zwischenmenschlichen Beziehungen als auch der Beziehungen zwischen Umwelt und Mensch, dass die Gesellschaft überfordert scheint. Sie kennt für diese Veränderungen nur den Begriff Krise, von der Klimakrise über die Finanzkrise bis zur Krise der Demokratie (Peter Sloterdijk spricht von einer staatlichen „Bürgerausschaltung“). Die zur Zeit aktuellen Protestgruppierungen, zum Beispiel die Indignados, die Occupy-Bewegung etc., stellen gewissermaßen neue Reparaturkulturen dar, die nach Auswegen aus diesen scheinbar alternativlosen Krisen und der partiellen Handlungsunfähigkeit der Politik, der Beute der Banken, suchen.

Die neuen Formen spontaner Massenproteste von Individuen haben gerade im Zuge des Arabischen Frühlings gezeigt, wie etablierte Machtsysteme – zumindest für einen kurzen Moment der Geschichte – außer Kraft gesetzt werden können. Probleme der Demokratie und der Ökonomie, vor allem Korruption, sind ebenso Gegenstand weltweiter aktivistischer Proteste wie die Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte, nach friedlichen Lösungen für globale Konflikte, nach einer stabilen Zuwanderungspolitik, nach Gesundheitsvorsorge, Tierschutz und Umweltschutz.

In der Epoche des Anthropozän kommt es zu Konflikten zwischen Freunden und Feinden der Erde. Es werden daher neue Tribunale und neue Verträge zwischen Natur und Mensch (etwa unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit), zwischen Generationen und Nationen, zwischen BürgerInnen und Staat angestrebt, die besonders in der digitalen Gesellschaft möglich erscheinen. Erste Ergebnisse dieser Ausdehnung der Rechtssphäre sind die NGOs (non-governmental organizations), die in den letzten Jahrzehnten eine wichtige, bahnbrechende und vorbereitende Rolle für den globalen Aktivismus gespielt haben – man denke an die weltweit aufsehenerregenden, medial festgehaltenen Aktionen von Greenpeace, Amnesty International, Transparency International etc. Offensichtlich haben große Teile der Gesellschaft den Eindruck, dass der Staat die Rechte der BürgerInnen nicht ausreichend schützt, sondern diese im Gegenteil sogar verletzt. Daher haben BürgerInnen neue Organisationsformen geschaffen, um diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Nach der „global city“ (Saskia Sassen, The Global City, 1991) und der „global governance“ (Brundtland-Bericht, 1987) entsteht eine neue Form gesellschaftlichen Handelns, eine „performative Demokratie“, in deren Mittelpunkt der/die „globale BürgerIn“ steht. Von ihm werden lebenswichtige Interessen der gesamten Menschheit wahrgenommen, die einzelne Nationalstaaten nicht berücksichtigen. Globaler Aktivismus konstituiert sich also auf der Basis einer „globalen Bürgerschaft“.

Durch performative Interventionen von Künstlergruppen wie Pussy Riot in Verbindung mit massenmedialer Distribution ist erkennbar geworden, wie AktivistInnen einen realen Beitrag zur Bewältigung der Krisensituation leisten können, indem sie eindeutig auf Missstände hinweisen. Praktiken der künstlerischen Performance und der Partizipation des Publikums, die es in der Kunst seit sechzig Jahren gibt, brechen nun also gewissermaßen in die Sphäre der Politik ein. Die Publikumsbeteiligung in der Kunst als Konsequenz der performativen Wende hat wahrscheinlich die historischen Voraussetzungen für die neue Bürgerbeteiligung in der Demokratie geschaffen. Die Kunst der interaktiven Medien hat soziale Modelle antizipiert.

Mit den Ausstellungen net_condition (1999/2000), CRTL [Space]. Rhetorik der Überwachung, von Bentham bis Big Brother (2001/2002) und Making Things Public. Atmosphären der Demokratie (2005) hat das ZKM schon früh auf die Optionen und Risiken der digitalen Gesellschaft hingewiesen. Ebenso präsentiert das ZKM seit Jahren Praktiken der künstlerischen Performance und der Partizipation des Publikums. Diese Praktiken sind nun offensichtlich in die Sphäre der Politik expandiert. Denn einerseits wird von einer Krise der Demokratie, sogar von einer Postdemokratie gesprochen. Andererseits jedoch vermehren sich überall auf der Welt vielfältige Bewegungen der Bürgerbeteiligung. Der Slogan der Boston Tea Party (1773), die letztendlich zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges im Jahr 1775 führte, war: „No taxation without representation“. Die BürgerInnen von heute fordern scheinbar „no taxation without participation“. Die Ausstellung global aCtIVISm rückt dieses neue Engagement der BürgerInnen in den Fokus. Wie die Hervorhebung des Wortes CIVIS in „aCtIVISm“ bereits verdeutlicht, soll es dabei um eine praktische und performative Weiterentwicklung der Differenz von Citoyen und Bourgeois gehen. Die Politiker der modernen Demokratie verstehen nämlich unter Bürger fälschlicherweise den Bourgeois. Aber in Wahrheit braucht die Demokratie, um lebensfähig zu bleiben, den Citoyen. Deswegen beschwören die amerikanischen Begründer der Demokratietheorie, von Walter Lippmann bis John Dewey, immer wieder die zentrale Funktion des Citizen.

Der Citoyen (abgeleitet von cité „Stadt“, lateinisch civitas „Bürgerschaft“, „Staat“) bezeichnet den/die BürgerIn beziehungsweise StaatsbürgerIn, der/die in der Tradition und im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und dieses mitgestaltet, basierend auf den Werten der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Jean-Jacques Rousseau schrieb: „Der Citoyen ist ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt. Dieses gemeinsame Interesse beschränkt sich nicht auf die Summe der einzelnen Willensäußerungen, sondern geht über sie hinaus.“ (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts; französisches Original: Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique, 1762). Des Weiteren: „Der wahre Sinn dieses Wortes ist bei den Neueren fast völlig verschwunden; die meisten verwechseln Stadt (ville) und Polis (cité), Städter (Bourgeois) und Bürger (Citoyen).“ Auch Immanuel Kant bedient sich in seinen Schriften dieser wichtigen Unterscheidung. Der freie Wille des Bürgers im Sinne von Hegels Rechtsphilosophie darf nicht reduziert werden auf die freie Wahl zwischen mehreren, von der Politik vorgegebenen Optionen, sondern er besteht darin, der Politik selbst Handlungsoptionen vorzuschlagen. Es wird eine neue Sprache und Rhetorik der Politik entwickelt, die sich aus historischen wie aus neuen technisch fundierten Elementen zusammensetzt. Diese neue Sprache nur als Protest zu definieren, verfehlt die eigentliche Innovation, denn was wir in Wirklichkeit erleben, ist die Erfindung des Bürgers/der Bürgerin. So wie die „Erfindung des Volkes“ (Edmund S. Morgan, Inventing the People, 1989) notwendig war, um die repräsentative Demokratie zu konstituieren, so bedarf es heute der Erfindung des Bürgers/der Bürgerin durch den/die BürgerIn, um die gefährdete Demokratie weiterzuentwickeln. Es handelt sich also nicht nur um reine Protestbewegungen, sondern um antizipatorische Demokratiebewegungen.

Die Ausstellung global aCtIVISm versucht mithilfe von Fotos, Filmen, Videos, Blogs, den sozialen Medien und weiteren massenmedialen Dokumenten eine erste Kartografie des globalen Aktivismus zu entwerfen und die Vorgehensweisen, Taktiken, Strategien und Methoden dieser „performativen Demokratie“ (P. Weibel) herauszuarbeiten: Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen, Okkupationen öffentlicher Einrichtungen, Blocking, Streik, Leaking, Clowning, Mournings, Pray-Ins, Teach-Ins, das Dokumentieren in sozialen Medien, das Platzieren von Postern und Bannern, Graffiti und Street Art, das Verteilen von Flugblättern, Theater-Aktionen, Flashmobs, Media Jacking, Petitionen und öffentliche Briefe, Kunstwerke, Re-Enactments, Toolkits, Internetaktivismus. Der aus der Verbindung von Aktivismus und Kunst entstehende „Artivismus“ ist vielleicht die erste neue Kunstform des 21. Jahrhunderts.

Der Blog soll während der Ausstellung den Diskurs zu zentralen Themen des globalen Aktivismus ermöglichen, einen Austausch über öffentliche Plätze als Orte des Protests, Institutionen und Netzwerke des Aktivismus, die Tactical Media und Protest Tools zur Organisation und Gestaltung der Aktionen, Occupy als Reaktion auf die globale ökonomische Krise sowie die staatliche Überwachung. Dietrich Heißenbüttel, der sich bereits seit Langem mit globalen, künstlerischen Formen des Aktivismus beschäftigt, wird den Blog moderieren und redaktionell betreuen.

Weitere Informationen unter: www.global-activism.de

Ein Mann mit einer Affenmaske spricht in eine Mikrofon
Peter Weibel bei einem Auftritt des Hotel Morphila Orchesters, München 1979
© Peter Weibel

Über den Autor

1944 in Odessa geboren, studierte Peter Weibel Literatur, Medizin, Logik, Philosophie und Film in Paris und Wien. Durch seine vielfältigen Aktivitäten als Künstler, Kurator, Theoretiker und Lehrer gilt er als die zentrale Figur der europäischen Medienkunst. Seit 1984 ist er Professor an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, von 1984 bis 1989 war er Professor für Video und Digitale Kunst am Center for Media Study an der State University of New York in Buffalo. 1989 gründete er das Institut für Neue Medien an der Städelschule in Frankfurt, das er bis 1995 leitete. Von 1986 bis 1995 war er künstlerischer Leiter der Ars Electronica in Linz, von 1993 bis 1999 Österreichs Kommissär der Biennale von Venedig und von 1993 bis 1998 Chefkurator der Neuen Galerie in Graz. Seit 1999 ist Peter Weibel Vorstand des ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. 2002 wurde er mit dem „Großen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“ ausgezeichnet. Im Jahr 2008 war er künstlerischer Leiter der Biennale von Sevilla (Biacs3). 2007 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der University of Art and Design Helsinki verliehen, 2008 das französische Ehrenzeichen „Officier dans l’Ordre des Arts et des Lettres“ und 2009 der „Friedlieb Ferdinand Runge-Preis für unkonventionelle Kunstvermittlung“ der Stiftung Preußische Seehandlung, die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und der „Europäische Kultur-Projektpreis“ der Europäischen Kulturstiftung. Ebenfalls 2009 wurde Peter Weibel zum ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München gewählt. Von 2009 bis 2012 war er Gastprofessor an der University of New South Wales, Sydney, Australien. 2010 wurde ihm das „Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse“ überreicht. 2011 war er künstlerischer Direktor der 4. Moskau Biennale für zeitgenössische Kunst. 2013 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Pécs, Ungarn, verliehen.

Kategorie: Gesellschaft