Ein Forschungsseminar mit Bruno Latour
Excursions into the entanglements of Critical Zones von Martin Guinard-Terrin, Daniel Irrgang und Bettina Korintenberg
Wo landen? Ein Seminar zur Neukartierung der Erde
»Alles muss aufs Neue kartografiert werden«, fordert Bruno Latour in seinem Terrestrischen Manifest. Die französische Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel Où atterrir? erschienen. Direkter als die deutsche Variante adressiert der französische Buchtitel die Leitfrage nicht nur des Essays, sondern auch eines Forschungsseminars, welches Bruno Latour an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe unterrichtet hat: Wo sollen wir landen?
Zwischen Januar 2018 und November 2019 entwickelte der französische Philosoph und Soziologe als Gastprofessor an der HfG Karlsruhe eine imaginäre Kartografie, mittels derer eine Orientierung gelingen mag in jenen zerrissenen Verhältnissen zwischen Gesellschaft, Politik und der Erde, auf der wir leben. Er hat sie als »Neues Klimaregime« bezeichnet.
Klima wird in diesem erweiterten Sinne verstanden als die »Beziehungen der Menschen zu ihren materiellen Lebensbedingungen«.
Interdisziplinäres Arbeiten im Forschungsverbund
Das Seminar versammelte Studierende und AbsolventInnen der Hochschule aus Theorie, Gestaltung und den Künsten sowie ForscherInnen und KünstlerInnen aus unterschiedlichen Teilen der Welt. In Kooperation mit dem Kurator Martin Guinard-Terrin, der Kuratorin Bettina Korintenberg und Daniel Irrgang, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HfG Karlsruhe, entwickelte Bruno Latour zusammen mit den TeilnehmerInnen des Seminars Herangehensweisen und Strategien für die Ausstellung »Critical Zones«. In den Wochen zwischen den insgesamt sechs Blockveranstaltungen arbeiteten die TeilnehmerInnen einzeln oder in Gruppen an Forschungsprojekten in Form von wissenschaftlichen oder künstlerische Arbeiten oder von Beteiligungsformaten wie Workshops und Performances, von denen einige in der Ausstellung bzw. ihrem Katalog präsent sein werden.
Ergänzt wurden die Positionen im Seminar durch Gäste aus Wissenschaften und Künsten. So etwa der Künstler Armin Linke, der bekannt ist für seine investigativ-dokumentarischen Arbeiten zum »Anthropozän«, dem vor einigen Jahren vorgeschlagenen neuen Erdzeitalter, in dem der Mensch seine Spuren auf planetarer Ebene und mit langfristigen Auswirkungen zu hinterlassen begonnen hat. Armin Linke wird mit seinen fotografischen und filmischen Arbeiten nicht nur in der Ausstellung vertreten sein, er hat auch die zweite Seminarsitzung im Mai 2018 in Bildern festgehalten und sie uns für diese Dokumentation dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.
Das Konzept der »Critical Zone« – Die dünne Haut der Erde
Sowohl das Seminar als auch die Ausstellung gehen von dem Konzept der »critical zone« aus. Es stammt aus jenen interdisziplinären Forschungen aus Geologie, Chemie, Physik und Chemie, die als Erdsystemwissenschaft zusammengefasst werden und die letztlich auch soziale Komponenten berücksichtigen. Hier wird der Begriff verwendet, um die dünne »Haut« des Planeten Erde zu bezeichnen – seine Oberfläche, auf der sich Leben entwickelt hat und welches seine eigenen Lebensbedingungen selbstgenerierend aufrechterhält. Diese Oberfläche ist hochgradig reaktionsfähig, fragil, angreifbar – und damit kritisch. In ihren sich überlappenden, hochkomplexen Biosystemen ist der Mensch nur einer von vielen Akteuren, die in komplexen Abhängigkeiten zueinanderstehen.
Die Perspektive der »critical zone«, die den Menschen als zutiefst eingebettet in und als Teil von komplexen geologischen, chemischen, biologischen und physikalischen Vorgängen beschreibt, stellt grundlegend den ideengeschichtlich so mächtigen alten Dualismus aus Kultur und Natur infrage. Der wissenschaftlich-objektive, »kultivierende« Blick auf die Phänomene, dem ein distanziertes Einwirken des Menschen auf die Natur folgt, wird enttarnt als eine unmögliche Position von außen. Einem Außen, das nicht existieren kann, wenn der Mensch untrennbarer Teil einer Umwelt ist, die wiederum aus dem heterogenen Zusammenwirken aller Lebewesen und ihren bio- und geochemischen Prozessen gebildet wird. In der Entwicklung einer solchen Perspektive spielen für Bruno Latour die Pionierleistungen der Biologin Lynn Margulis und des Chemikers James Lovelock eine wichtige Rolle. Ihr »Gaia«-Modell, welches das Leben und seine sich selbst generierenden Bedingungen als einen die gesamte Erde umschließenden Vorgang begreift, ist ein wichtiger Bezugspunkt für die Arbeit Bruno Latours und des Forschungsseminars. Die Konferenz »Next Society – Facing Gaia«, die im April 2016 im Rahmen der Ausstellung »Reset Modernity!« am ZKM stattfand und die sich mit der existentiellen Frage, wie die Weltbevölkerung im Neuen Klimaregime zukünftig leben wird, auseinandergesetzt hat, kann als Auftakt des Projektes »Critical Zones« in Karlsruhe verstanden werden.
Eine Neukartierung – und nun?
Die Frage, die sich nun stellt ist, wie uns solch eine neue Sicht auf unsere Welt helfen kann, in einer Zeit globaler (sozialer, politischer, ökonomischer, ökologischer) Krisen ein neues Verhältnis zu ihr zu entwickeln; eines, das nicht mehr jenes abstrakte, distanzierte Verhältnis der Moderne ist. In »Das terrestrische Manifest« charakterisiert Bruno Latour einige Merkmale dieser Krisen und schlägt als Antwort den möglichen Vektor einer »irdischen« Existenzweise des Menschen vor. Folgt man seiner Gegenwartsanalyse, so hat der Vektor der Moderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die Globalisierung als Narrativ von Fortschritt und grenzenlosem Wachstum – ausgedient. Der Vektor als ein in die Zukunft hinein offener Kurs ist zu einem definiten Endpunkt geworden: Unser zukünftiger Planet wird das Wachstum der Summe seiner menschlichen Bewohner auf einer zudem klimatisch bedingt schrumpfenden Landmasse mit immer knapper werdenden Ressourcen nicht mehr tragen können. Der Kurs nach vorn, in Richtung Globalisierung, der im Schwung der Moderne trotzdem noch immer vorangetrieben wird, ist unrealistisch geworden. Doch auch der Weg zurück, in Richtung des alten Territoriums, der sich als eine Rückkehr zu konservativen Werten wie Heimat, Boden und Tradition gibt und dabei Symptome wie Brexit und America first-Rufe zeigt, ist in einer Welt planetarer Zusammenhängen unmöglich geworden. Wenn Bruno Latour nun fragt, wo wir noch landen können, wenn der Weg nach vorn in Richtung Globus und der Weg zurück in die Territorien versperrt sind, so bleibt für ihn nur noch der Schritt »seitwärts«. Dies ist der Schritt in Richtung des »Terrestrischen«, mit dem wir eine Welt anerkennen, in die wir eingebettet sind in komplexe Beziehungen mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren – und in welcher die Achtung des Anderen unumgänglich ist, da sie der Achtung der eigenen Lebensbedingungen vorausgeht. Die existentiellen Konsequenzen dieser Verstrickung beschreibt Bruno Latour in »Das terrestrische Manifest«:
Bruno Latour, Das terrestrische Manifest
»Das Terrestrische stellt nicht länger allein den Rahmen menschlichen Handelns dar, es ist vielmehr Teil davon. Der Raum ist nicht mehr der mit ihrem Raster aus Längen- und Breitengraden erfasste der Kartografie, sondern ist zu einer bewegten Geschichte geworden, in der wir selbst nur Beteiligte unter anderen sind, die auf Reaktionen anderer reagieren.«
Die Aufgabe des Forschungsseminars war es, den Möglichkeitsraum des Terrestrischen ästhetisch und repräsentativ greifbar und letztlich als Ausstellung erfahrbar zu machen.
Methoden im Seminar: Rollenspiele zur Erprobung des terrestrischen Potentials
Zwischen Nationalstaat und irdischem Raum
Unter jenen Methoden des Seminars, welche dem spekulativen Vektor des Terrestrischen erforschten, haben sich das Reenactment und das performative Rollenspiel besonders bewährt. So wurden etwa die Protagonisten von Bertolt Brechts Stück »Leben des Galilei« in die Zukunft transportiert und sein Hauptdarsteller durch James Lovelock ersetzt. Durch diesen Vergleich der Umbrüche hin zum heliozentrischen Weltbild um 1610 mit den Umbrüchen, die das Terrestrische mit sich bringt, konnten politische und idealistische Motivationen und Argumente der Verfechter des »alten Globus« oder des »vergangenen Territoriums« mit der Identität der »neuen terrestrischen Existenzweise« in Spannung gesetzt werden: Welche Interessen und Positionen treffen mit welcher Handlungsmacht aufeinander, um Status und Gültigkeit neuer lebensweltlicher Konstellationen – neuer »Kosmologien« – zu verhandeln? In verschiedene Gruppen aufgeteilt, versetzten sich die Teilnehmer in die Rolle von BewohnerInnen einerseits des alten Territoriums, des Nationalstaats, und andererseits des neuen irdischen Raumes. Beide Parteien sollten nun ein erstes Aufeinandertreffen simulieren und einen Weg finden, wie sie ihre unterschiedlichen Standpunkte zur Welt einander vermitteln können. Die Leitkategorien, die es der jeweils anderen Seite näher zu bringen galt, waren die Identität der Gemeinschaft (demos), die Konstruktion der jeweiligen Gottheit resp. des religiösen Systems (theos) und die sich daraus ergebende Kosmologie (cosmos). Zugegeben, dies sind abstrakte Kategorien, die nicht leicht in performativer Interaktion zu vermitteln sind. Die verschiedenen Gruppen fanden dennoch bemerkenswerte Strategien, sich einander anzunähern.
Performative Arbeiten und Interventionen
Neben solchen Rollenspielen nahmen weitere performative Arbeiten, welche die komplexen Verhältnisse zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren experimentell erfahrbar machten, eine wichtige Stellung im Forschungsseminar ein. »Micro Worlds«, eine partizipative Intervention, die sich der Materialität von Objekten annähert, wurde von der Performancekünstlerin Mira Hirtz entwickelt und im Seminarkontext im Hinblick auf Anwendbarkeit im Ausstellungskontext getestet. Hierzu definierte sie in den Lichthöfen der Hochschule einen Interaktionsraum mit organischem und anorganischem Material und lud die TeilnehmerInnen dazu ein, sich ihrer Performance anzuschließen und spontane Rituale zu entwickeln, in denen die Materialität des jeweiligen Objekts sowie die Bedeutung der eigenen Position in Beziehung zu Objekt und Raum aus einer subjektiven und relationalen Perspektive erforscht wurde.
Technologisch basierte Arbeiten
Neben solchen eher performativen bzw. zeitkritischen Arbeiten wurden im Verlauf des Forschungsseminars auch stärker technologisch basierte Arbeiten entwickelt. Hierzu zählt eine Konzeptstudie Michail Rybakovs, Alumnus der HfG Karlsruhe; sie ist nur eine von mehreren Projekten, die der Medienkünstler im Seminar konzipiert hat.
Konzeptstudie Michail Rybakov
Die Arbeit geht von den taxonomischen Bildtafeln Ernst Haeckels (1834–1919) aus, der nicht nur den Begriff »Ökologie« geprägt, sondern auch als Zoologe jenen klassifizierenden Blick des Naturforschers geschärft hat, er die eigene Beobachterposition außerhalb der Natur lokalisieren will – Haeckels berühmte Darstellung »Der Stammbaum des Menschen« (1874) lokalisiert bekanntlich den Menschen in der (Baum-)Krone der Schöpfung
Künstliche Intelligenz gekreuzt mit Ernst Haeckel
Rybakov hat nun diese Bildafeln bearbeitet, und zwar nicht mittels der subjektiven Einbildungskraft eines Künstlers, der sein Objekt herstellt, sondern vermittels der technischen Einbildungskraft künstlicher Intelligenz. Über deep learning-Algorithmen wurde das Programm mit Haeckel-Bildtafeln gefüttert und darauf trainiert, visuelle Muster zu erkennen. Hieraus wurden neue Bilder generiert, die den illustrativen Stil Haeckels auf übliche Schnittdiagramme zur Darstellung der »critical zone« projiziert.
Herausgekommen sind Bildwelten, die uns seltsam vertraut, aber dennoch faszinierend fremd erscheinen. Sie zeigen skurrile Landschaften von ineinander gefaltetem biologischen Material – wie Lebenswelten, die generativer Teil ihrer eigenen Umwelt sind und die »critical zone« charakterisieren.
Wie diese Arbeitsbeispiele zeigen, näherte sich das Seminar der Frage, wo wir landen sollen, mit experimentellen Mitteln. Input-Vorträge von Bruno Latour und GastrednerInnen sowie ein laufendes Feedback zu den entwickelten Projekten der TeilnehmerInnen steckten den offenen Rahmen für Diskussionen, Reenactments, Performances, Gruppenarbeit und individueller Forschungsarbeit ab. Das Ziel einer Ausstellung im Mai 2020 bildete hierbei die einzige Determinante, das Seminar selbst blieb höchst explorativ und iterativ, um auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können.
Rückblickend hat sich die offene Struktur des Forschungsseminars bewährt, bedenkt man die rapiden Entwicklungen in der öffentlichen Wahrnehmung des Diskurses um den Klimawandel, seitdem das Seminar im Januar 2018 – etwa ein halbes Jahr vor Greta Thurnbergs erstem SKOLSTREJK FÖR KLIMATET – angelaufen ist. Wir hoffen, mit dem Forschungs- und Ausstellungsprojekt »Critical Zones« unseren Teil zu einer der wohl wichtigsten Debatten unserer Zeit beitragen zu können.
Ein Beitrag von Martin Guinard-Terrin, Daniel Irrgang und Bettina Korintenberg