Trotz des ohrenbetäubenden Aufschreis der erloschenen Seelen
In den letzten zwanzig Jahren ist viel von der Durchlässigkeit der Grenzen gesprochen worden, um die Vorteile der Globalisierung hervorzuheben.
VON GUY WOUETE
Im Hinblick auf Afrika ist jedoch nur wenigen Menschen bewusst, dass die aktuellen Grenzen das Ergebnis einer „[…] willkürlichen Aufteilung des afrikanischen Kontinents durch die europäischen Kolonialmächte“ sind, „die bei einer Sitzung in Berlin mit dem Lineal Grenzlinien zogen, die Identität unserer Völker in mit Bindestrichen getrennte Einheiten teilten […] und endlose Konflikte schufen.“[1].
Von diesen Konflikten, die Völker auseinanderreißen und die uns von den Medien der Welt täglich zugetragen werden, wollen wir hier nicht sprechen; auch nicht über die Politikerinnen und Politiker, die sich in westlichen Ländern der Grenz- und Immigrationsthematik bedienen, um Wahlkampf zu betreiben und die Neurosen von Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus zu pflegen, ja zu verschärfen. Wir wollen eher versuchen mithilfe der Kunst, der Ästhetik, zu begreifen, wie eine Herangehensweise (die sich als Gesellschaftskritik versteht) die Absurdität des aktuellen, „politisch-mafiahaften“ Grenzkonzepts hinterfragt.
„Das Wesentliche einer Sache ist nie die Sache selbst: Das Wesentliche der Kunst kann also nicht die Kunst sein: So wächst die Kunst über sich hinaus.“[2] Im Laufe der Jahre und im Zuge von Begegnungen, hat sich meine Arbeitsweise fortentwickelt und erscheint heute als eine Reise zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. An der Grenze zum Immateriellen fällt es mir nicht schwer, etablierte Regeln und Logik zu überwinden, um mein tägliches Umfeld zu entschlüsseln und neue Horizonte zu erschließen.
Ich bin auf der Suche nach einem Gegenmittel zur Heilung der Narben, mit denen all jene gezeichnet sind, die von nun an, freiwillig oder unfreiwillig, von hier und von woanders herkommen und nirgends ein Zuhause haben; diejenigen, die wie ich, jeden Tag aufs Neue im Getöse der Wortklänge einen Ort suchen, an dem sie ihre Desillusionierung unterbringen und sich auf unbeschriebenen Seiten mit anderen Worten schmerzlich neu erfinden können. Skulpturen/Installationen, Malerei, Videokunst, Fotografie, Siebdruck, Kollagen und Poesie gehören zu der Werkzeugpalette, die ich benutze, um Zeitabschnitte zu markieren und Grenzen abzubauen.
In den Immigrantenlagern herrscht eine Art Kastrationsangst – aus Ungewissheit über das bevorstehende Schicksal und aufgrund des langen Wartens, in dem sich Hoffen und Bangen vermischen. Diese Angst verzehrt einen wie Feuer und hinterlässt ein bitterkaltes Gefühl von Ohnmacht. Dieses Gefühl, das viele Migranten bereits in ihrem Herkunftsland erfahren haben, das sie angetrieben hat, die Reise zu wagen und das ihren Entschluss sich ihrem Schicksal zu überlassen, rechtfertigt. „Die Grenzen [in der Welt und vor allem in Afrika] sind ein Fluch, den wir aufheben müssen, wenn wir wollen, dass [die Menschen in Frieden leben,] dass unser Kontinent sich kulturell, wissenschaftlich und wirtschaftlich wie eine einzige Einheit – organisch – weiterentwickelt.“[3]
Meine Multimedia-Arbeit ist Teil eines Gesamtkonzepts, das unter anderem darauf angelegt ist, den Begriff von Grenze und Migration wieder menschlicher zu betrachten. Meine Kunst erhebt keinen Anspruch auf einen geografischen Raum, sie bezieht sich nicht auf eine Farbe oder ein Genre. Meine Kunst dreht sich nicht hauptsächlich um Schmerzen und Leiden, die den Leib befallen und den Geist verderben.
Meine Kunst schöpft aus dem hier und jetzt Fühlbaren, sie sucht im vom Konflikt belagerten Verstand den „entscheidenden Augenblick“, in dem sich die (ir-)rationale Begegnung zwischen Gesagtem und Ungesagtem ereignet. Mit meinem Werk möchte ich etwas aufzeigen, erlebbar machen, das den „funktionellen Status Quo“ unserer Gesellschaft aus den Angeln hebt!
Ästhetisch gesehen, beinhalten die meisten meiner Werke, die diese Thematik behandeln, eindeutig kritische Aspekte. Next Week zum Beispiel ist ein Projekt, das ich 2010 in Malta realisiert habe. Ich bin dort hingefahren, um die Migrantenlager zu besichtigen, darunter auch Hal Far Tent Village. Dieses provisorische Lager wurde 2007 eingerichtet, weil andere überfüllte Lager die immer weiter steigende Anzahl von Flüchtlingen nicht mehr aufnehmen konnten.
Als ich 2009 in Amsterdam ankam, wollte ich mich erneut dem Immigrationsproblem widmen, aus europäischer Perspektive, vom Endziel der Migranten aus betrachtet. Ich kenne diesen Missstand aus kamerunischer Sicht, sogar aus afrikanischer; ich weiß, in welch große Gefahr die Leute sich auf dem Weg in die Immigration begeben. Für viele ist es oft das einzige Mittel (um nicht zu sagen der letzte Ausweg), nicht die Hoffnung aufzugeben – ein Mittel, ihren Geist und ihren Körper in einer Dynamik zu erhalten, die eine Veränderung in ihrem Leben herbeiführen kann.
Wenn „Kunst keine Anwandlung sondern Realisierung ist“, welchen Platz hat dann die Realisierung von Kunst angesichts der Realität von Grenzen und Flüchtlingen?
Das Projekt Next Week wurde von mehreren markanten Ereignissen ausgelöst. Da waren zuerst die tragischen Ereignisse von Ceuta und Mellila, die sich im September 2005 zugetragen haben. Ob der Mediatisierung der Ereignisse (und ihrer Ausmaße), erinnert sich wohl jeder an die achthundert illegalen Einwanderer, die (um ihrem fledermaushaften Dasein auf afrikanischem Boden vor den Toren Europas zu entkommen) den (7 Meter hohen, 11 und 8 Kilometer langen) elektrischen Zaun aus Stacheldraht von Melilla und Ceuta erstürmten, in der Hoffnung, dieses von Marokko eingeschlossene spanische Territorium zu betreten.
Sechs Illegale wurden bei dem Ansturm durch Schüsse getötet. Noch immer „weiß niemand“, ob die Schüsse von der marokkanischen oder der spanischen Seite aus abgegeben wurden. Die anderen Illegalen wurden gefangen genommen und in die Wüste an die Grenze zwischen Marokko und Algerien geführt, wo man sie ohne Wasser und Nahrung zurückgelassen hat.
„Empört“ (um das berühmte Empört Euch! [4] von Stéphane Hessel aufzugreifen) über dieses Geschehen, beschloss ich, mich mit künstlerischen Mitteln davon frei zu machen und die Öffentlichkeit mit dieser Migrationsproblematik zu konfrontieren. Von dem Zeitpunkt an wurde für mich die Tatsache, in Europa zu leben und nach Kamerun zurückzugehen, zur Protestaktion, die hoffentlich auch heute noch auf das Bewusstsein meiner Umgebung einwirkt.
Seit dieser Zeit und bis heute, habe ich jedoch ausreichend gedankliche Freiheit entwickelt, um nicht in einem Schein-Aktivismus zu verharren. Denn man muss darauf hinweisen, dass sich in dieser Migrationsfrage viele nur aus Nachahmung und aus Eigeninteresse für die Sache der Migranten engagieren, nicht aber tatsächlich bereit sind, irgendetwas dafür zu opfern.
Auf einer Reise im Jahr 2010 habe ich in Malta den Schriftsteller Daniel Rondeau in seiner Eigenschaft als französischer Botschafter der Insel kennengelernt – welch eine Enttäuschung! Herr Rondeau hatte einem Gespräch mit mir zugestimmt (er wusste, dass ich bildender Künstler war und ihn für mein Projekt vor laufender Kamera zu den Lebensbedingungen der Immigranten/Asylsuchenden anhören wollte), wollte jedoch nicht, dass ich unser Gespräch filme, mit dem Argument, er könne es sich als französischer Botschafter nicht erlauben, offen über dieses Thema zu sprechen.
Dennoch war er bereit, mir von den „verdeckten“ Aktionen zu berichten, mit denen er die Immigranten/Asylbewerber unterstützte; aber er war nicht in der Lage, das was er zu sagen hatte, in meine Kamera oder auf mein Tonbandgerät zu sprechen. Die Immigranten/Asylbewerber, für die er sich angeblich einsetzte, waren ihm seine Stelle als Botschafter nicht wert.
Diese Stellung gab ihm die Möglichkeit per Hubschrauber die Unglücksorte zu überfliegen, an denen die nicht seetüchtigen Schiffe der „Boatpeople von heute“ wie er sie nennt, kenterten; und danach Texte zu schreiben, die er veröffentlichen würde. Mit dieser misslungenen Begegnung bestätigte sich, was ich schon vor meiner Ankunft in Malta vermutet hatte: Ein Immigrant/Asylbewerber ist nichts wert.
Und man sollte diesem französischen Botschafter seine Entscheidung nicht übelnehmen, wenn er sein Gehalt damit zu rechtfertigen sucht, die diplomatische Logik – die den israelisch-palästinensischen Konflikt immer noch nicht gelöst hat – nicht bloßzustellen, trotz des ohrenbetäubenden Aufschreis der erloschenen Seelen, die von Soldaten, Polizisten und Schleppern gequält, geschlagen, vergewaltigt und beraubt werden, in der Wüste, an der libyschen und tunesischen Küste und sogar bei ihrer Ankunft auf europäischem Boden in Italien und Malta.
Gibt es wirklich nur noch ein paar „Idioten“, die wahrscheinlich nichts von der Logik der neuen Welt, in der sie leben verstehen, um daran zu glauben und diesen anderen Menschen, für die Menschenrechte nicht gelten, Beachtung zu schenken?
Von dem Projekt »Next Week« bleiben mir heute nur noch Videos, Fotos und Installationen, die ich durch die Welt trage, in Galerien, Biennalen und Festivals für zeitgenössische Kunst und anderen Ausstellungen. Diese Produktionen und andere, die ich zur selben Thematik schaffen will (im Zusammenhang mit den jüngsten tragischen Ereignissen vom 17. September 2013 in Melilla und Ceuta und vom 3. Oktober in Lampedusa), haben weder die Realität der Immigration verändert, noch die der Migranten. Und doch kämpfe ich entschlossen, mit voller Motivation und künstlerischem Engagement gegen diesen Missstand an.
Der Beitrag der Kunst und der Künstler in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist längst belegt. Doch kann ich als Künstler individuell nur schwer einschätzen, welche Wirkung das Werk eines engagierten Künstlers im Hinblick auf einen solchen Missstand wie die Immigration hat.
Alle Artikel zur Blog-Diskussion im Rahmen von „global aCtIVISm“
Weitere Informationen unter: www.global-activism.de
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Anmerkungen
Aus dem Französischen übersetzt von Marie-Thérèse Schmidt.
[1] N. Farah, Frontière: une malédiction de notre continent, in: M. el Mocter, O. Poivre d’Arvor, S. Sidibé, M. Diawara, M. Foucher, M. Krifa und L. Serani (Hg.), Rencontres de Bamako 09 Biennale africaine de la photographie, Culturesfrance éditions, Actes Sud, Paris, 2009, S. 18–19, hier S. 19, übersetzt aus dem Französischen von Marie-Thérèse Schmidt.
[2] François Soulages and Marc Tamisier, Photographie contemporaine & art contemporain (l’image & es image 4), Klincksieck, Paris, 2012, S. 13, übersetzt aus dem Französischen von Marie-Thérèse Schmidt.
[3] Farah, 2009, S. 19, übersetzt aus dem Französischen von Marie-Thérèse Schmidt.
[4] Stéphane Hessel, Empört Euch!, aus dem Französischen von Michael Kogon, Ullstein, Berlin, 2011.
Über den Autor
Guy Wouete lebt und arbeitet in Antwerpen und Douala. Er wurde 1980 in Douala geboren und studierte an der Rijksakademie van Beeldende Kunsten in Amsterdam Kunst und Multimedia. Wouetes Fotografien entstehen aus einer konzeptionell künstlerischen Arbeitsweise, die der eines Reporters ähnelt, aber schließlich genau dessen Pflicht, an bekannte Bilder anzuknüpfen, hinter sich lässt. Er stellt sich dem Paradox, als Künstler die Dinge zu materialisieren und abzubilden, die nur als Widerspruch und Übergangssituation erfahrbar sind. Die Bilder der Serie The dynamic of sunset (2009–2013) zeigen Portraits im Passbildformat, Schnappschüsse eines buchstäblich Unfassbaren, der sich aus dem Bild wendet, mit den Augen einen Raum außerhalb des Rahmens sucht, den er selbst bestimmen beziehungsweise erzählen will. Wouete ist ein Fotograf, der Übergangsmomente der Identität festhält; er ist auch der Fotografierte, der der Festlegung durch die Kamera entgeht. Dabei entsteht ein Freiraum, der sozial, kulturell, politisch von jedem einzelnen immer wieder neu erfunden und gefüllt werden kann.
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