Editorial von ZHANG Ga

Datumsoria: The Return of the Real

Blick in die Ausstellung »Datumsoria«

»Künste (um ein altes Wort für eine alte Institution zu übernehmen), Künste unterhalten nur symbolische Beziehungen zu den Sinnesfeldern, die sie voraussetzen. Medien dagegen haben im Realen selber einen Bezug zur Materialität mit der sie arbeiten.«

Friedrich Kittler, »Weltatem. Über Wagners Medientechnologie«, in: ders., »Das Nahen der Götter vorbereiten«, Wilhelm Fink Verlag: München 2012, S. 30

Eine monumental leuchtende, aufrecht stehende Platte strahlt prismatische Farbschattierungen aus dem Weltraum aus. Ein nicht identifizierbares, aus zahlreichen Elementen zusammengesetztes Objekt schwebt in der Luft, und aus dem Torso dieses gigantischen Wesens wächst ein lebender Baum. Daneben befindet sich ein riesiger Metallturm, an dem eine Vielzahl von 80 großen und kleinen Bildschirmen montiert ist. Sie rotieren und schöpfen alternierend Bilder und Worte aus der Leere des Cyberspace. Diese Kreaturen sind von drei großen Leinwänden flankiert, die von spinnenartigen Robotern geschäftig bemalt werden. Mit der Zeit wird die Leere angefüllt mit Spuren von BMW-Montagestraßen und Verkehrsbewegungen am Brandenburger Tor in Berlin.

Sie betreten »Datumsoria: The Return of the Real«.

Das generische Reale

Die Suche nach dem Realen war seit langem der moralische Imperativ der Aufgeklärten.

In ihrem Streben nach dem Realen als Träger der Wahrheit (Noumenon oder Ding an sich) bekämpften die Vertreter der Moderne das Reale als (Effekt der) Repräsentation (Phänomen) beharrlich durch eine Katharsis der Illusion. Piet Mondrian hat aus seiner Bildsprache schrittweise alle deskriptiven Charakteristika eliminiert. Das zeigt sich in den sukzessiven Abstraktionen seiner Apfelbaum-Gemälde auf der Suche nach einem visuellen Versmaß von innerer Notwendigkeit. Kasimir Malewitsch hat bereits 1915 die Malerei auf nichts als ein gewisses schwarzes Quadrat reduziert und dabei postuliert, dass diese Transformation in Leere und Nichts zu einem neuen, nicht-objekthaften Realismus führen werde. Robert Ryman hat sechs Jahrzehnte lang vollständig weiße Gemälde geschaffen, um als höchsten Wert der Malerei zur Wahrheit vorzudringen: Die vom Kritiker Clement Greenberg geprägte und gepriesene Flächigkeit der Bildebene.

Auf diese Weise hat das Reale der weltlichen Dinge durch den Widerspruch und die Verbote der Formalisten seine Beweiskraft verloren.

In seiner überzeugenden Publikation von 1996 fasst der Kunsthistoriker Hal Foster die Entwicklungen in der Kunst seit den 1970ern als eine Forderung nach der Rückkehr des Realen zusammen. Er argumentiert, dass sich das Reale in den wirklichen Körpern und sozialen Orten findet, die in Form von traumatisierten und erniedrigten Subjekten erkennbar sind. »Die konzeptionelle Verschiebung weg von der Realität als einem Effekt der Repräsentation hin zum Realen als einem Ding des Traumas ist für die zeitgenössische Kunst vermutlich bestimmend.« [1] Die zeitgenössische Kunst, wie wir sie heute kennen, verdankt ihre Existenz der entschiedenen Ablehnung sowohl des bildhaften Realen als auch des illusionistischen Surrealen und beginnt mit einer erneuten Wertschätzung der referentiellen und bedeutungsgebenden Macht des Bildlichen. Zuletzt hat Foster in seinem 2015 veröffentlichten Buch Bad New Days seine seit fünfundzwanzig Jahren erprobten Kategorien der Kunst wieder in Stellung gebracht: abjekt, archival, mimetisch, prekär, oder – mit Fragezeichen versehen – post-kritisch. Durch die Wiederaufnahme einer Reihe von Begriffen, die an seine frühere Untersuchung anknüpfen, hat Foster seine Suche nach dem Realen unter den herrschenden Bedingungen eines vom Neoliberalismus indoktrinierten globalen Kapitalismus neu artikuliert. Am anderen Ende des diskursiven Spektrums informiert uns Sianne Ngai in ihrem 2012 erschienenen Buch Our Aesthetic Categories in einem beschwingteren Jargon und der Leichtigkeit von »blöd, nett und interessant«, über eine Reihe ganz anderer Kriterien zur Interpretation des Realen.

KritikerInnen und KommentatorInnen haben politische und soziale Aufstände immer sehr genau als Katalysatoren kultureller Umbrüche und als Barometer neuer künstlerischer Prämissen beobachtet. Es sind viele Überlegungen angestellt worden, wie eine mögliche Beherrschung der Welt mit der digitalen Revolution aussehen könnte; eine erste Ahnung davon gab es bereits im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Mit der Veröffentlichung des ersten graphischen Webbrowsers Mosaik wurde das Internet 1993 buchstäblich erwachsen: Die lang versprochene Datenautobahn wurde verwirklicht und mit Bitmaps und Pixellierung ein Welt-Bild geschaffen. Damit ging die allumfassende Verbreitung des binären Codes einher, der sämtlichen digitalen Kommunikationstechnologien zugrunde liegt. Aus heutiger Sicht kann das Binäre durchaus dem Zustand einer Prä-Individuation im Sinne Simondons entsprechen, einer Meta-Stabilität, die zu allen physischen, technischen und psychischen Individuationen / Realitäten fähig ist [2], die aus generischen Nullen und Einsen bestehen.

Ein Großteil der Kulturkritik aus den unterschiedlichsten Lagern ist sich darüber einig, dass das Psychosoziale das einzige Objekt von bleibender Bedeutung ist, das vom intellektuellen Ethos in der Tradition der Aufklärung anerkannt wurde. Das wird in Forsters leidenschaftlichen Beschreibungen ebenso deutlich, wie in Ngais genüsslich vorgeschlagenen Kategorien. Doch Gilbert Simondon zufolge, dem jüngst wieder entdeckten französischen Philosophen, dessen vorausschauende Erkenntnisse frühzeitige Denkanstöße für eine neue Theorie der Technologie-Ethik geliefert haben, und damit auch für eine neue Theorie der Anthropologie und Psychologie, ist das Psychosoziale als Trans-Individuation nur eine dritte Ordnung der Individuation, die den Individuationen des physischen, technischen und lebendigen Seins nachgeordnet ist. Die Letztgenannten besitzen seiner Ansicht nach keine Sonderrechte, sie unterschieden sich nicht ihrem Wesen nach voneinander, sondern nur durch die Graduierung von Ablaufstadien. Wenn eine flache Ontologie, die alle Wesen als gleichwertig betrachtet, dank Klimaveränderung und ökologischer Katastrophen eine neue Wende in der aktuellen diskursiven Stimmung anzeigt und das Regime der anthropozentrischen Tradition der gesamten Humanwissenschaften unterwandert, dann liefert die Simondonische Formulierung der Prä-Individuation eine solide Grundlage, um mit neu gefassten metaphysischen Begriffen über eine Theorie der Gleichheit zu spekulieren, die für alle Wesen jeder Art einen universalen Ursprung entdeckt. Das Generische als Genese ist dem Konzept der Prä-Individuation immanent. Die digitale Primordialität der Gegenwart liefert den Anlass zu einer solchen generischen Realität.

Das Generische entwischt der Auseinandersetzung zwischen Neoliberalismus und Neuer Linken und lässt die Euphorie über den Höhepunkt der technischen Singularität ebenso wie das Lamento über die Diaspora der Menschheit blutleer und blass erscheinen. Das generische Reale ist digital und virtuell, und seine binäre Funktionsweise ist in der Lage sämtliche analoge Information aufzunehmen und Materialität auf diese Weise neu zu erschaffen. Das heißt, wenn es sich um Daten handelt, gibt es weder Differenz noch Differenzierung zwischen einer Video-Datei oder einem Word-Dokument, einer Audio-Datei  oder einem Kreisdiagramm. In erster Linie sind sie nichts weiter als unspezifische numerische Aufzeichnungen, die durch elektromagnetische Ein- und Ausschaltimpulse abgerufen werden. Der Mathematiker John von Neumann erklärte die Funktionsweise von digitalen Geräten mit binärer Logik einst so: »Man muss gleich zu Beginn festhalten, dass es in digitalen Maschinen durchwegs nur ein einziges Organ für alle grundlegenden Funktionen gibt.« [3] Die digital hervorgebrachten Rohdatenpakete können durch unterschiedliche Protokolle übermittelt und in jedem Medium wieder zusammengesetzt werden, das am anderen Ende der Leitung gewünscht wird. Sie sind ihrem Wesen nach form- und transformierbar. Daher verursacht das Generische keinen Bedeutungsverlust, keine sinnliche Verarmung und keinen Verfall der Originalität. Im Gegenteil, in der digitalen Verfassung findet eine Morphogenese statt, eine Phasenverschiebung, in deren Verlauf die Unbestimmtheit kristallisiert und emotionale Emergenz frei wird.

Das Generische als das Generative

LIU Xiaodongs Suche nach dem Realen gewinnt bereits in seiner Plain-Air-Malerei Ausdruck, indem er sich vom bloß erscheinenden Realen abwendet. In »Weight of Insomnia« hat LIU Xiaodong ein automatisiertes System entwickelt, das Eingangsdaten und rechnerische Bildalgorithmen manipuliert, um während der gesamten Dauer der Ausstellung eine Leinwand kontinuierlich zu bemalen. Die autonome performative Malerei ist zugleich fesselnd und befremdlich, denn sie fordert den gängigen Begriff von Malerei, so wie wir ihn kennen, heraus. Während »Weigth of Insomnia« durch die Wiederbelebung generischer Daten zu einem düster affektiven Objekt der Begierde wird, berechnet Carsten Nicolais »unitape« makellose Bilder und Töne und wirft Licht auf eine algorithmische Raffinesse. »Voice of Sisyphus«, eine Studie von George Legrady entfesselt einen wogenden Widerhall aus Pixeln und Sinusschwingungen. Hier bringt rechnerische Strenge sowohl den Bildton als auch das Tonbild hervor. Ralph Baeckers »Mirage« generiert die Projektion einer synthetischen Landschaft, die auf der Wahrnehmung des Apparates durch eine Sonde zur Erdabtastung basiert. Der Nachweis einer fortwährenden Verschiebung dieser »Halluzination« der Erde macht die Projektion zu einer Art unterschwelliger Wanderung durch das Unterbewusstsein einer Maschine. In ZHANG Peilis »Landscape with Spherical Architecture« wird die Wahrnehmung durch die digitale Vermittlung einer bestimmten Unbestimmtheit ausgesetzt. Die Arbeit beschwört einen emotionalen Ablauf herauf, in dem sich Subjekt und Objekt miteinander verflechten und an einem bestimmten Moment in diesem Zeitraum austauschbar werden. Rafael Lozano-Hemmers »Please Empty Your Pockets« schafft eine beunruhigende Realität, in der Memorabilien als kostbare menschliche Erinnerung bewahrt und zugleich als Information für Profit und Konsum akkumuliert werden: Eine Memex-Maschine, die ihre Unschuld verloren hat.

Das gigantische in der Luft schwebende Objekt ist die Arbeit »Quarterly«, ein Exemplar von vielen, die unter der Leitung von WANG Yuyang# entstanden sind, einer Software-Suite, die auf Augenhöhe mit dem Künstler konzipiert wurde. Durch zahlreiche unterschiedliche Wiederholungen hat WYY# ein Paradigma konstruiert, das die anthropozentrische Taxonomie aufbricht, weil Intelligenz und Kreativität keine ausschließlich menschlichen Privilegien mehr sind. Durch die Verlagerung der kreativen Tätigkeit vom menschlichen Künstler zur ansonsten dienenden werkzeughaften Maschine hat WYY# nicht nur ein Fülle von verblüffend neuen Formen von Plastik, Malerei und Perfomance hervorgebracht. Sie zwingt uns darüber hinaus auch, eine Welt neu zu denken, in der die Wahrnehmung des Realen nicht mehr auf das menschliche Bewusstsein allein reduziert werden kann, und zu einer Realität wird, in der die Produktion von Wissen im Austausch von Menschen und Nicht-Menschen entsteht.

Datumsoria und die Rückkehr des Realen

Vermutlich bedarf es eines neuen deskriptiven Registers: Bezeichnen wir es mit Datumsoria, einem Neologismus, der sich aus Datum und Sensorium zusammensetzt. Datumsoria benennt einen neuen Wahrnehmungsraum, der dem Informationszeitalter immanent ist, denn er verweist auf die Logik des neuen Realen: Eine Realität, die auf der virtuellen Macht binärer Impulse basiert, auf der Generativität von Nullen und Einsen, deren Immanenzfeld eine Verfestigung von Formen und Gestalten verursacht. Das Reale ist – entgegen aller Wahrscheinlichkeit eines Realen als Repräsentationseffekt oder eines Realen als Surrealen – eine getarnte Virtualität. Das Reale ist das Generische als das Generative, das Prinzip von Emergenz und Schöpfung.

Nam June Paik hat 1994 in seiner großartigen Video-Installation den Traum vom Internet geträumt. Wäre seine elektronische Datenautobahn doch nur ein romantischer Wegweiser oder ein symbolischer Hinweis auf das Kommende gewesen! Datumsoria attestiert unmissverständlich die ungeheure Präsenz einer weltumspannenden Membran jenes Netzwerks, das die Spielregeln von Arbeit und Muße, Politik und Ökonomie für immer verändert hat. Durch die Ablösung von empfindsamen Residuen und das Aufrufen von emotionalem Potential entsteht im Fluss von Nullen und Einsen entsteht das Bewusstsein einer technischen Autopoiesis, die zu einer Subjektivität anderer Art fähig ist. Sie drängt auf eine neuen Ethik, die – wie der späte Friedrich Kittler intuitiv erkannte – von einer anderen Dimension sein wird. Datumsoria weist auch darauf hin, dass die Politik des Realen nicht mehr nur im Bereich der wirklichen Körper und sozialen Orte stattfindet, den vorherrschenden Subjekten zeitgenössischer Erfahrung und den dominanten Objekten künstlerischer Forschung, die in Form von traumatisierten und erniedrigten Subjekten erkennbar sind. Die Politik des Realen verweist auch darauf, wer das Eigentumsrecht über diese neue Realität ausübt, die von der Materialität der Bits und Bytes und der algorithmischen Macht des Digitalen konstruiert wird.

In den 1960ern verteidigte Leo Steinberg in seiner grundlegenden Anthologie »Other Criteria: Confrontations with Twentieth Century Art« leidenschaftlich den damals noch jungen und unbequemen Jasper Johns, der zumeist als Renegat aus dem Mainstream des abstrakten Expressionismus verbannt worden war. Im 21. Jahrhundert jedoch bedarf die Begegnung mit der Kunst und der Welt im Allgemeinen anderer Kriterien für den Begriff des Realen. Die Künste haben bisher faszinierende Eindrücke in unseren Sinnesfeldern hinterlassen – abjekte, prekäre, blöde oder interessante. Was nun das fragliche Reale betrifft, so sollten sie neu kalibriert werden, damit sie das Generische und Virtuelle als neue Kriterien von Produktion und Bedeutung begreifen, in welchem Medium auch immer sie in Gang gebracht werden

[1] Hal Foster, »The Return of the Real«, Cambridge: MIT Press 1996, S. 146

[2] Jean-Hugues Barthelemy, »Life and Technology. An Inquiry into and Beyond Simondon« (Übersetzt von Barnaby Norman), Lüneburg: Meson Press 2015, S. 18 und 19

[3] John von Neumann, Die Rechenmaschine und das Gehirn, Oldenburg: De Gruyter 1991