Asyl im neuen Athen

Die Museen müssen weitaus mehr Aufgaben übernehmen als bisher, weil sie gewissermaßen zum Exil, zum Zufluchtsort für verbannte und vertriebene oder noch nicht anerkannte Visionen werden.
© Foto: Andy Ridder
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VON MATTHIAS KAMPMANN IM GESPRÄCH MIT PETER WEIBEL

Matthias Kampmann: Worin sehen Sie die Aufgabe der »GLOBALE« als Veranstaltungsformat im Rahmen eines Stadtjubiläums? Wie inkubiert das ZKM das Jubiläum? Und welche Rolle spielt die Kunst?

Peter Weibel: Die Ausstellungsformate der Kunst sind von den Zelten der Salons des Indépendants des 19. Jahrhunderts bis zum weißen Würfel des Museums des 20. Jahrhunderts relativ gleich geblieben. Mit dem Auftauchen der Medienkunst, welche die Partizipation und Interaktion des Betrachters einfordert, und den Formen der Handlungskunst (Body Art, Aktionismus, Happening, Fluxus, Performance, Live-Art) hat die performative Wende auch die Ausstellungshäuser erreicht. Solange Kunst nur als zwei- oder dreidimensionales Objekt ausgestellt wurde, genügten dem Ausstellungskünstler die klassischen Ausstellungsformate.[1] In dem historischen Augenblick, als die Künste sich performativ und operativ erweitert haben, wurden die klassischen Ausstellungsformate als Einschränkung empfunden.

Performative Kunstformen

Deswegen hat das Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM) von Anfang an Tanz, Performance und Musik als wesentliche Teile seiner Aufführungs- und Ausstellungspraxis verstanden und in das Programm inkludiert. Wir experimentierten in der Ausstellung »net_condition« (1999/2000) mit Onlineformaten und virtuellen Dependancen und wir experimentierten mit Boris Charmatz (»Moments. Eine Geschichte der Performance in zehn Akten«, 2012) und Sasha Waltz (»Sasha Waltz. Installationen Objekte Performances«, 2013/2014) mit theatralischen und tänzerischen Formaten. Heute beginnen dann auch Museen wie die Tate Modern und das MoMA für Performances eigene Formate zu entwickeln. Sogar die Kunstmesse Art Basel zeigte Live-Art, wenn auch in geschlossenen Räumen. Umgekehrt beginnen Theater, sich performativen Kunstformen zu öffnen. Gleichzeitig hat das ZKM in der Ausstellung »The Global Contemporary. Kunstwelten nach 1989« (2011/2012) und mit zahlreichen Symposien seit circa sechs Jahren die Frage gestellt, wieso es heute weltweit gesehen hundert Mal mehr Biennalen als vor zwanzig Jahren gibt.

Im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung und vor allem aufgrund der veränderten Praktiken der bildenden Kunst wie auch der Veränderung des Theaters und des Tanzes werden neue Veranstaltungsformate dringend notwendig. Die polyphone und multipolare Manifestation »GLOBALE« ist die Summe der Erfahrungen des ZKM und seiner Beobachtungen des globalen Kunstgeschehens und gipfelt in dem Anspruch, für die zeitgenössischen, avanciertesten Kunstpraktiken, die performativ sind, die live sind, die online sind, die digital sind usw. ein entsprechendes Präsentationsformat zu entwickeln.

Vermischung und Erweiterung

Künstler arbeiten heute im Weltraum wie in der Tiefsee, machen Kunstwerke auf mehreren Kontinenten gleichzeitig. Ihre Studios gleichen den Labors von Wissenschaftlern. Wissenschaftler öffnen sich spekulativen Visionen von der Gentechnik bis zur Energiegewinnung. Künstler interessieren sich für ähnliche Themen. So kommt es zu Schnittstellen und Schnittmengen, zu Konfluenzen und Konvergenzen, für die eine eigene Architektur des Raumes wie der Zeit entwickelt werden muss.

Die Theater, die Museen, die Opernhäuser, aber auch die Wissenschaftsakademien stehen vor einer schwierigen Zeit der Transition, weil sich die bisher getrennten Arbeitsbereiche aufgrund der neuen Praktiken der Künstler, aber auch der Wissenschaftler, vermischen und erweitern. Die Museen müssen weitaus mehr Aufgaben übernehmen als bisher, weil sie gewissermaßen zum Exil, zum Zufluchtsort für verbannte und vertriebene oder noch nicht anerkannte Visionen werden. Wenn die Politik so weitermacht wie bisher und die Kirche auch versagt, werden in Zukunft die Migranten nicht mehr in den Kirchen, sondern in den Museen Asyl suchen. Das ZKM ist dafür schon vorbereitet.

Neue Institutionen und Initiativen

Polyphon ist die »GLOBALE« deswegen, weil wir mehrere Kuratoren aus verschiedenen Kulturen eingeladen haben, die Moderne neu zu denken: Bruno Latour aus Europa, Pan Gongkai aus China, Yuko Hasegawa aus Japan. Das geschieht in einer Bandbreite von szenografischen, choreografischen und wissenschaftlichen Arbeiten. Siegfried Zielinski wird »Allahs Automaten« präsentieren, die um 1000 nach Christus gebaut wurden, also die Stimme Arabiens zu Beginn der wissenschaftlichen Neuzeit. Musikveranstaltungen wie mit DJ Spooky werden sich um einen internationalen Trend, der »Global Bass« heißt, kümmern. Zu Beginn der Globale wird ein theatralisches Tribunal einen Prozess gegen die Verbrechen im 20. Jahrhundert führen und am Ende der »GLOBALE« werden Wissenschaftler und Künstler unter dem Titel »Next Society« Lösungen für das 21. Jahrhundert vorschlagen.

Wir brauchen nämlich neue Institutionen und Initiativen, um die Verfehlungen des 20. Jahrhunderts nicht zu wiederholen. In einer Reihe sich abwechselnder Veranstaltungen und Ausstellungen werden unter dem Titel »Infosphäre« die Effekte der digitalen Revolution und mit »Exo-Evolution« die Effekte der neuen Maker Culture und Engineering Culture von großartigen Künstlern dargestellt. Wir werden auch in der Stadt Karlsruhe selbst mit performativen Aktionen und Skulpturen das Stadtbild von Karlsruhe verändern. Karlsruhe ist im Moment eine gigantische Baustelle, gewissermaßen von Bauunternehmen besetzt. Insofern möchte ich mit einer Art Baustellenkunst dagegen intervenieren. Ebenso werden wir mit neuen Projektionstechniken wie Video Mapping die Fassade des Karlsruher Schlosses visuell transformieren. Drei Monate lang gibt es immer wieder Fassadenprojektionen, die zum Teil auch interaktiv sein werden, also Publikumsbeteiligung benötigen.

Verfassung der Zukunft

Vom »Bürgerkünstler« bis zum »Bürgerwissenschaftler« appellieren wir an die große liberale Tradition Karlsruhes und die Badische Revolution 1848/1849. Karlsruhe gilt mit seinen drei Justizinstitutionen als Residenz des Rechts. Damit ist es der ideale Ort, um die Verfassung der Zukunft zu debattieren. In Karlsruhe wurden zwei Erfindungen bzw. Entdeckungen gemacht, welche die Welt massiv beeinflusst haben, nämlich die Mobilität der Maschinen, der Transport von Menschen und Gütern durch Autos (1886 durch Carl Benz) und die Mobilität der Medien, der Transport von Daten durch die drahtlose Funktechnologie (1886–1888 durch Heinrich Hertz). Dadurch haben sich die Globalisierung und Digitalisierung ergeben.Daher ist der 300. Stadtgeburtstag von Karlsruhe der ideale Ort und Anlass für die »GLOBALE«.

Eine kleine persönliche Bemerkung: Ich träume ja stets von der Utopie einer virtuellen dezentralen Geografie der Macht. Deswegen bin ich für den Föderalismus und die Unterstützung der Peripherie, für die Orte an den Rändern der Republik. Berlin ist für mich die Stadt des »Infinite Jest«.[2] Im »New Yorker« vom Dezember 2014 wunderte sich George Packer nicht umsonst über »The Quiet German in Berlin«. Karlsruhe verspricht in seinem Namen Ruhe, aber durch seine Geschichte, durch seine gegenwärtigen Institutionen und großen lebenden Persönlichkeiten, die hier wirken, sorgt Karlsruhe immer wieder für Unruhe, zum Beispiel stellt die »FAS« (02.12.2012) verwundert die Frage, ob Karlsruhe das »neue Athen« sei. Ich behaupte, Karlsruhe ist zumindest die Hauptstadt der BRD, der Bildungsrepublik Deutschland.

Kunst des 21. Jahrhunderts

Welche Rolle spielt die Kunst bei der »GLOBALE«? Das ist eine Frage wie: Welche Rolle spielt die Demokratie? Und die Antwort hängt davon ab, was man von der Demokratie bzw. Kunst erwartet. Wenn man wie viele der Auffassung ist, dass Kunst eine Trophäe für Oligarchen ist oder die Zulieferindustrie für die Haute Couture von Armani bis Louis Vuitton, von Prada bis Pinault, die ja jetzt alle ihre eigenen hoch dekorierten Museen haben, also Kunst zur Luxusgüterindustrie gehört, oder wenn man Kunst als neue Form der Steuerhinterziehung betrachtet, dann spielt Kunst bei dieser »GLOBALE« keine Rolle. Wir zeigen kaum Vertreter der Marktkunst und der Auktionskunst. Wir zeigen Kunst des 21. Jahrhunderts. Die meisten Museen zeigen nicht einmal die Kunst des 20. Jahrhunderts. Sie richten das Publikum ab, die Kunst des 19. Jahrhunderts zu lieben, indem sie sich nach dem vermeintlichen Geschmack des Publikums richten.

Wir haben weder Angst vor dem Publikum noch vor der Gegenwartskunst, weil wir unser Publikum nicht verachten wie das Fernsehen es mit seinem Publikum tut und daher nur Trash bietet. Wir gehen davon aus, dass auch das Publikum keine Angst vor der Gegenwartskunst hat, wenn man sie ihm nur zeigen würde und Gegenwartskunst ist ja unendlich mehr als Markt- und Auktionskunst, das blinde Karussell der immer gleichen Namen. Von Sound Art, die nicht in den Konzerthäusern gespielt wird, über wissenschaftsbasierte Kunstexperimente, die für Museen technisch zu schwierig zu realisieren sind, bis hin zu wissenschaftlichen Visionen, die für die Akademien zu spekulativ sind, werden bei der »GLOBALE« die wichtigsten Trends in der Kunst und Wissenschaft des 21. Jahrhunderts gezeigt.

Magd des Marktes

Die Kunst läuft Gefahr, sich selbst aus dem sozialen Spiel der Bedeutung herauszunehmen, indem sie sich als Magd des Marktes und der Unterhaltungsindustrie verdingt. Die Wissenschaft hat demgegenüber ein derartiges Prestige gewonnen, dass an ihrer extrem hoch subventionierten Existenz niemand zu zweifeln wagt. Das hat auch damit zu tun, dass der aktuelle Schlüsselbegriff »Innovation« heißt, wie für das 20. Jahrhundert »Wachstum« und das 19. Jahrhundert »Evolution« . Die Kunst hat zu allen diesen Schlüsselbegriffen relativ wenig beigetragen. Daher spielt sie nicht mehr die Rolle, die sie einmal hatte und die sie sich einbildet. Die marktbeherrschende Kunst stellt weder die richtigen Fragen noch gibt sie die richtigen Antworten. Nun erleben wir das Erwachen einer neuen Künstlergeneration, die neue Wege für die Kunst sucht, sich von der Unterhaltung abwendet und sich wissenschaftlichen Experimentalsystemen zuwendet. Darüber hinaus verhält sie sich medienkritisch und politisch alternativ. Wir können daher von einer Renaissance 2.0 sprechen.

MK: Wenn wir Zukunft »bauen« , ist Karlsruhe ja ein schönes Beispiel, weil kaum eine Stadt derart »gebaut« wurde, denn die meisten Städte »wachsen« ja. Was könnte der Slogan »Zukunft bauen« für Karlsruhe heute heißen? Wie baut das ZKM mit?

PW: In der Tat ist Karlsruhe eine am Reißbrett entworfene Stadt, die berühmte Fächerstadt mit dem Schloss als Zentrum und radialen Sektoren. Nach Plan gebaut steht Karlsruhe nun vor dem Paradox, dass in der Ära der Informations- und Kommunikationstechnologie, welche Karlsruhe wesentlich geprägt hat, diese Art von historischem Bauen nicht mehr gleich ist mit »Zukunft bauen«. Im Zeitalter der Digitalisierung ist neben der gebauten Architektur eine globale virtuelle Architektur durch Internet und soziale Medien entstanden. Die digitale Vernetzung schafft eine parallele, virtuelle Geografie, in der das Zentrum gleichrangig mit der Peripherie wird. Karlsruhe ist nämlich eine der Internet-Hauptstädte Europas. In einem Ranking wurde es nach München, Paris und London als viertwichtigste Internetstadt gekürt.

Zukunft des Bauens

Karlsruhe müsste sich also anstrengen, die medien- und datenbasierte Raumerfahrung des Internetzeitalters, eine dezentrale, virtuelle Architektur, in die Realität zurück zu übertragen. Karlsruhe sollte aussehen wie die digitale Dependance ihrer selbst. So könnte Karlsruhe eine Musterstadt für die Zukunft des Bauens werden, wenn sie thermodynamische, ökologische Parameter berücksichtigte. In Karlsruhe schrieb Karl Steinbuch das erste Werk über »Die informierte Gesellschaft«[3], und im ZKM steht der einzige noch funktionierende ZUSE 22-Computer. Konrad Zuse verdanken wir das Meisterwerk »Rechnender Raum«.[4] Karlsruhe als eine errechnete Stadt hieße, eine neue Form der Zukunft zu bauen. Die Ausstellungen des ZKM von »Algorithmische Revolution« (2004) bis »Making Things Public« (2005) haben bereits die Grundlagen geliefert ebenso wie die Konferenz »Intelligent Buildings« (1989) der Technischen Universität Karlsruhe.

MK: Sie sprachen von einer Art Evolution bzw. der stets fortschreitenden Extension des Menschen, dessen Raum die Infosphäre sein wird. Haben wir die schon erreicht? Und wie spiegelt sie sich zur »GLOBALE«?

PW: Die natürliche Evolution hat Organe wie die Hand, das Auge, die Lunge hervorgebracht. Diese Organe sind gewissermaßen Antworten der Evolution auf die Sonne und die Atmosphäre. Die Hand gilt zweifelsohne als eines der ersten Werkzeuge des Menschen. Mit diesem natürlichen Werkzeug konnte der Mensch aber andere Werkzeuge herstellen, die nicht von der Natur, sondern von ihm hergestellt wurden. Metaphorisch gesprochen könnte man sagen, die Werkzeugkultur entstand aus einer technischen Auslagerung – Exteriorisierung – der natürlichen Organe des Menschen.

Verbessert, erweitert, korrigiert, ersetzt

Aus der Hand wurde der Hammer, aus dem Fuß das Rad usw. Diese Werkzeuge haben die Funktionen der natürlichen Organe verbessert, erweitert, korrigiert und schließlich sogar ersetzt. Die Brille korrigiert Fehler der natürlichen Netzhaut. Die Prothese ersetzt das fehlende Bein. Aus der natürlichen Evolution ist der Mensch mit den von ihm selbst geschaffenen Werkzeugen, vom Mikroskop bis zum Mikrophon, herausgetreten. Wir sprechen heute von einem Exo-Skelett, das außerhalb des menschlichen Körpers die Arbeit der kaputten Wirbelsäule erledigt. In diesem Sinne sind die Brille ein Exo-Auge, das Hörgerät ein Exo-Ohr, alle Speichermedien ein Exo-Gedächtnis etc. Die Suche nach Leben außerhalb der Erde betreibt die Exo-Biologie und wir suchen nach Planeten außerhalb der bekannten Galaxien, den Exo-Planeten. Die Maschinen und Medien sind technische Extensionen der Organe. Die Summe dieser Werkzeuge bildet die Exo-Evolution.

Rückwirkend erkennen wir, dass die Organe Werkzeuge sind, allerdings natürliche Werkzeuge, die uns die Evolution geschenkt hat. Zu den Rätseln der Evolution gehört es, dass wir Organe für Licht und Luft entwickelt haben, aber nicht für Magnetismus und Elektrizität, obwohl diese schon länger, nämlich seit Entstehen des Kosmos, existieren. Erst durch die Kompassnadel entdeckten wir die Existenz des Magnetismus. Erst vor vierhundert Jahren wurde die Erde als Magnet entdeckt. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte Faraday den Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus und Maxwell beschrieb ihn mit seinen berühmten Formeln. Erst Heinrich Hertz bewies die Existenz elektromagnetischer Wellen und dass das Licht aus elektromagnetischen Wellen besteht. Seine damaligen Funkenexperimente schufen die Grundlagen für die drahtlose Funktechnologie von Telefon bis Radio, von Fernsehen bis Wifi.

Atmosphäre und Infosphäre

Für die Rezeption dieser elektromagnetischen Wellen hatte der Mensch keine natürlichen Organe, sondern er musste sich künstliche Organe außerhalb des Körpers dafür schaffen (Radio, Telefon, Fernsehen, Satellitenfunk, Antennen, GPS-Systeme etc.). Mithilfe der Exo-Evolution haben wir die Hülle aus elektromagnetischen Wellen, welche die Erde ähnlich wie die Atmosphäre umgibt, nutzbar gemacht. Diese neue Sphäre nannte ich bei einem Vortrag 1986 (»Jenseits der Erde«) erstmals Infosphäre. Mittlerweile ist das Wort ein geflügeltes geworden. Es gibt sogar ein Buch mit dem Titel »The 4th Revolution. How the Infosphere Is Reshaping Human Reality«.[5] Der von der Evolution für den Menschen geschaffene Wohnraum ist die Erde mit ihrer Atmosphäre. Mit der vom Menschen geschaffenen Exo-Evolution hat er sich eine globale, digitale Dependance geschaffen: die Infosphäre.

Der Mensch lebt nun in zwei Habitaten, zwei Sphären: als biologisches Lebewesen in der Atmosphäre, als soziales Wesen in der Infosphäre. Wenn man sich vorstellt, sogar das Paarungsverhalten braucht heute schon mit «Parship» und ähnlichen Onlinedatings die Infosphäre. Sieben Milliarden Menschen könnten auf dem Globus nicht leben, wenn wir nicht mithilfe der Infosphäre den Transport von Daten, Gütern und Menschen im Minutentakt organisieren könnten. Wir leben definitiv bereits im Raum der Infosphäre. Die Evolution hat die Atmosphäre geschaffen, die Exo-Evolution hat die Infosphäre geschaffen. Alle vier Faktoren beeinflussen sich wechselseitig und werden, so ist die Hoffnung, zur Lösung der gegenwärtigen Krisen, von der Klimakrise bis zur Finanzkrise, beitragen. Die »GLOBALE« wird von der Maker Culture der 3D-Drucker über Nanomaterialien bis zum Genetic Engineering neue künstliche Lebensformen und Materialien mit neuen Eigenschaften zeigen.

MK: Vorausgesetzt, wir leben bereits in der Infosphäre (nicht zuletzt BND- und NSA-Aktivitäten deuten darauf hin), wie muss sich jemand ändern, der kein »digital native« ist und dennoch seine Umwelt verstehen möchte?

In den Ausstellungen zur Infosphäre werden wir auch die dunkle Seite der Technologie präsentieren, nämlich die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten. Bekanntlich ist heutzutage alles Kreativindustrie, auch die NSA ist schöpferisch, sie schöpft Verdacht.

»Medien, Daten und Menschen«

Die von der industriellen Revolution hervorgebrachte Moderne hat Frank Lloyd Wright 1930 mit der Gleichung »Machinery, Materials, and Men« beschrieben. Diese Gleichung wird weiter gelten. Deutschland als das Land der Maschinenbauer und Motoren ist ein Champion in der Interpretation dieser Gleichung. Aber in den weltweiten Rankings der großen Firmen und der großen Umsätze ist die Autoindustrie weit nach unten gerutscht und Internetfirmen wie Apple und Google finden sich unter den ersten zehn. Daraus leite ich die Vermutung ab, dass die Gleichung für das 21. Jahrhundert »Medien, Daten und Menschen« lautet. Europa spielt in dieser Gleichung nur die Rolle des Konsumenten. Die Software wird vorwiegend in Amerika programmiert und die Hardware wird in Asien gebaut. Sogar Nokia ist untergegangen. Europa ist in der Wertschöpfungskette des digitalen Zeitalters bloß der Endverbraucher. Wenn Europa nicht Milliarden Euro ausgibt, um eine digitale Souveränität zu erreichen, wird es von Amerika und Asien kolonialisiert und zu einem Kontinent der digitalen Sklaven.

MK: Was ist Ihr wichtigstes (künstlerisches) Anliegen, das mit der »GLOBALE« verbunden ist?

PW: Meine wichtigsten Anliegen mit der Globale artikuliert sich erstens im Wort von Matthäus: »Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit« (Mt 5,6). Das ist das Versprechen der Demokratie, aber weil es so unrealistisch ist, wird es an das Ende aller Tage verschoben, zum Jüngsten Gericht. Nach dem Tod der Täter und Opfer wird Gott Gerechtigkeit walten lassen. Ich bin für eine Säkularisierung der Gerechtigkeitsidee.

Konstruktion der Welt

Mein zweites Anliegen der »GLOBALE« ist, zu demonstrieren, dass die Epoche der absoluten Enthemmung, die wir Moderne nennen, und deren absoluter, individueller Expressionismus zu Ende gehen. Die Anzeichen sind weltweit nicht zu übersehen. Die Künstler beziehen sich auf naturwissenschaftliche Parameter, ihr Referenzsystem ist nicht mehr allein die Religion, die Kunstgeschichte, sondern auch die Naturwissenschaft. Die Künstler wollen an der Konstruktion der Welt teilhaben und nicht nur die Welt beschreiben oder abbilden. Deswegen gibt es eine immer größere Schnittmenge von Werkzeugen, die sich Wissenschaftler und Künstler teilen. Deswegen nähern sich Wissenschaft und Kunst wieder einander, auch wenn die Ziele verschieden sind, ein Vorgang, den wir zuletzt im 17. Jahrhundert, dem Siècle d’or, und in der Renaissance beobachten konnten.

Literatur

[1] Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln (DuMont) 1997)

[2] David Foster Wallace: Unendlicher Spaß. Reinbek (Rowohlt TB) 2011/1996)

[3] Karl Steinbuch: Die informierte Gesellschaft. Stuttgart (Dt. Verlagsanstalt) 1966

[4] Konrad Zuse: Rechnender Raum. Braunschweig (Friedr.Vieweg + Sohn GmbH) 1969, Rechte heute bei Springer, http://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-663-02723-2

[5] Luciano Floridi: The 4th Revolution. How the Infosphere Is Reshaping Human Reality. Oxford University Press 2014

Erschienen auf weisskunst.de Kunst, Kritik und Computer

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