Die Befreiung öffentlicher Räume: Wo fängt man an?

Korhan Gümüş über die Bedeutung des öffentlichen Raums am Beispiel der Geschehnisse in der Türkei.
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Bei seiner Wahl zum Bürgermeister von Istanbul im Jahr 1994 fand Tayyip Erdoğan bereits eine Reihe angedachter Großprojekte vor. Eines dieser Projekte war das „Taksim-Projekt“, dessen Entwurf von einem Professor einer der größten Universitäten Istanbuls stammte.

VON KORHAN GÜMÜŞ

Das „Entwurfsteam“, welches das verkehrsplanerische Projekt für den Taksim-Platz vorbereitete und zu dem auch weitere Wissenschaftler dieser Universität zählten, behauptete, der Verkehr müsse unter die Erde verlegt werden. Gemäß ihrem Entwurf sollten zur Entspannung der Verkehrslage sämtliche auf den Taksim-Platz führende Straßen in Tunnel verlegt werden und oberirdisch eine Fußgängerplattform entstehen. Das Team behauptete, dieses Projekt würde den Platz „fußgängerfreundlich“ gestalten und so maßgeblich zu einer „Modernisierung“ des Areals beitragen; laut seinen Urhebern sollte der Grundansatz dieses Projektes im Anschluss auch bei anderen Plätzen Anwendung finden. Sie fügten außerdem hinzu, Kritiker dieses Projektes verstünden offensichtlich nichts von der Materie. Letztere seien vielmehr nichts als Romantiker, die keinerlei Ahnung vom Bau von Verkehrskreuzungen oder Schnellstraßen hätten; ihren Bedenken sei also nicht die geringste Beachtung zu schenken.

Hinzu kam, dass es ein sehr gutes Argument gab, um das Rathaus von diesem Projekt zu überzeugen: In dem unterirdisch neu geschaffenen, mehrstöckigen Raum sollte ein Einkaufszentrum gebaut werden, und die Belegung dieses Einkaufszentrums würde eine große Hilfe bei der Erstfinanzierung aller geplanten Tiefbauten darstellen. Trotz des Drucks der Baufirmen, die mit der Verwaltung zusammenarbeiteten, blieb das Taksim-Projekt dennoch jahrzehntelang in der Schwebe; es wurde nie öffentlich ausgeschrieben.

Während seiner ersten Amtsjahre hatte Tayyip Erdoğan für dieses Projekt kein erfahrenes Team. Damals war es eigentlich üblich, die Universitäten an solchen architektonischen Großprojekten zu beteiligen. Beim Taksim-Projekt verhielt es sich jedoch anders: Erdoğan besaß ein besonderes Interesse an diesem Projekt. Er wollte auf dem Taksim-Platz eine große Moschee errichten und damit einen der größten Träume der Milli-Görüş-Bewegung (wörtlich übersetzt: Bewegung der Nationalen Vision) verwirklichen. Zu jener Zeit war die Fassade der Agia-Triada-Kirche bereits mit Werbetafeln zugepflastert. Gleichermaßen betrachtete man das Opernhaus als das „Werk einer Minderheit, die dem türkischen Volk seine Werte aufzwingen will“ und verunglimpfte es entsprechend; folglich musste auch für dieses Gebäude eine „Lösung“ her.

Erdoğan wusste, dass die Neugestaltung des Taksim-Platzes eine heikle Angelegenheit war. Und da man für dieses Projekt die Universitäten nicht heranziehen konnte, hatte man auch kein Team für den Entwurf der geplanten Moschee. Er wusste zudem, dass die Regierung ihn bei diesem Projekt nicht unterstützen würde. Daher konnte er sich nur an einem Experiment versuchen: Man wollte drei Kreise um den Entwurf ziehen und die anschließenden Reaktionen darauf beurteilen.

Die Entwicklung verlief anders als erwartet. Das „bescheidene“ Moscheeprojekt wurde zu einem der am meisten mit Spannung geladenen Themen des postmodernen Staatstreiches vom 28. Februar. Die Zeitungen titelten groß: „Moschee auf dem Taksim!“ Dies ließ sich durchaus wie folgt lesen: „Die Scharia kommt, und man wird unsere öffentlichen Räume besetzen.” Letzten Endes verlor Erdoğan sein Amt und kam ins Gefängnis.

Was stand hinter der Idee von Milli Görüş, eine Moschee auf dem Taksim-Platz errichten zu wollen? Es war die Vorstellung eines unterdrückten, ausgegrenzten und verarmten muslimischen Konservativismus. Die Moschee, die Erdoğan vor der Oper (dem AKM oder Atatürk-Kulturzentrum) erbauen wollte, war eine in Politik gegossene Verkörperung dieser Idee. Auf Grundlage dieser Erfahrung richtete Erdoğan seine Karriere in Richtung der Schaltzentralen der Macht aus.

Als Erdoğan nach einem zähen, aber erfolgreichen Ringen letztlich an die Macht gelangte, wollte er das Taksim-Projekt umgehend umsetzen. Der Taksim-Platz war ein Thema, das ihn nicht mehr losließ; es stellte ein Symbol jener Ungerechtigkeiten dar, die ihm widerfahren waren. Er hatte über jene Minderheit triumphiert, die die wahre Herrschaft des Volkes verhindert hatte. Dementsprechend war die Umgestaltung des Taksim-Platzes – eines öffentlichen Raums als Bezugspunkt nationaler Macht – von großer Bedeutung. Als sein Kandidat Kadir Topbaş 2004 die Kommunalwahlen in Istanbul für sich entschied und Oberbürgermeister wurde, sah Erdoğan die rechte Stunde dafür gekommen. Nun war es an der Zeit für eine Vergeltung der von ihm erlittenen Ungerechtigkeiten. Er übernahm die Macht und stand fortan an der Spitze des Staatsapparats, doch es wäre zwecklos gewesen, eine neuerliche Debatte um die Moschee zu entfachen. Topbaş musste eine klügere Lösung finden, die zugleich keine Rückschritte nach sich zog. Ein Architekt, der für die erfolgreiche Umsetzung von Bauprojekten in Gebieten mit strengen Bauvorschriften bekannt war, fand schließlich die Lösung, nach der Topbaş suchte: den Wiederaufbau der Topçu-Militärkaserne, die bis 1939 am Taksim-Platz gestanden und zu der auch eine Moschee gehört hatte.

Vor Beginn des eigentlichen Projektes begann man damit, für die anstehenden Tunnelbauarbeiten die Bäume vor dem Divan-Hotel auszureißen, was zu einer außergewöhnlichen Szene führte: Diese Art von Gewalt war ein höchst grober und ungeschickter Eingriff in den öffentlichen Raum. Dieser Gewaltakt schreckte wirklich jeden Menschen auf, der noch über ein Gewissen verfügte, und er wurde zu jenem Funken, der die Lage explodieren lassen sollte. Binnen kürzester Zeit versammelten sich Tausende im Gezi-Park. Bald wurden der Taksim-Platz, die İstiklal-Straße und viele andere öffentliche Orte zum Schauplatz einiger der größten Demonstrationen, die es bis dahin je gegeben hatte. Die Demonstrationen weiteten sich aus, und die Regierung bekam es mit der Angst zu tun.

Präsident Erdoğan erklärte, die Opposition habe nur auf einen Anlass für Massenproteste gewartet, die Bäume seien also nur ein Vorwand für sie. Allerdings musste der Präsident begriffen haben, dass diese Proteste eine neue Qualität besaßen; er versuchte folglich, sie völlig zu ignorieren und sogar ganz aus der Geschichte zu streichen. Man muss ihm jedoch zugestehen, dass er die äußeren Umstände für solche Massenproteste bereits weit im Vorfeld geschaffen hatte: Durch die Beseitigung der Militärführung und die Kontrolle der Militärbürokratie hatte er die oligarchischen Strukturen des alten Regimes verwandelt und das Fundament der politischen Opposition erschüttert, die sich von diesem alten Regime ableitete.

Der Umstand, dass die Regierung versuchte, Schritte einzuleiten, um die seit Gründung der türkischen Republik anhaltende Dauerkrise hinsichtlich der Kurdenproblematik zu lösen, führte zu einem Umbau der zentralistischen Struktur des Staates und einer Umgestaltung der herrschenden Bedingungen, was eine Darstellung der Zivilgesellschaft als feindselig gegenüber dem Staat ermöglichte.

Jetzt muss er entweder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren oder sich selbst erneuern. Manchmal werden sich Menschen, die ihr Leben auf eine ganz bestimmte Weise inszeniert haben – wie beispielsweise der Präsident –, gewisser Entwicklungen oder gar ihrer eigenen Taten erst sehr spät bewusst. Eine als „Genç Müminler“ [Junge Muslime] bekannte Gruppe verkündete: „Irgendwann schlägt Gott zurück.“ Auf dem Taksim-Platz entstand eine gänzlich neue Politik – an genau jenem Ort, der durch „nationale“ Politik vernichtet werden sollte.

Wir sehen heute ein Beispiel vor uns, das nicht nur aus Worten, sondern auch aus Taten besteht: Die Antikapitalistischen Muslime erfüllten das Ideal der „Milli-Görüş“-Bewegung mit ihrer Essenz. Statt dieses Ideal jedoch in Staatspolitik umzusetzen, bewahrten sie es als Teil der Zivilgesellschaft. Damit traten sie den Beweis dafür an, dass die Ausübung des Namaz [Gebets] nicht zwingend mit einer Besetzung der öffentlichen Räume einhergehen muss, sondern dass sie ganz im Gegenteil einen emanzipatorischen Aspekt aufweisen kann. Sie haben belegt, dass die Konservativen den öffentlichen Raum auf humanistische Weise definieren können, ohne auf irgendeine Form von Zentralmacht zurückgreifen zu müssen. Sie löschten eine Vorstellung aus, die seit 1969 Bestand hatte (als Rechte am „Blutigen Sonntag“ zu Angriffen auf Linke provoziert wurden, die gegen die Sechste Flotte der USA demonstrierten): „Die Anhänger der Scharia werden kommen und unsere öffentlichen Räume besetzen!“ Dieses Erbe haben sie abgelehnt. Bei ihren Freitagsgebeten im Gezi-Park hörten die Linken auf, ihre Slogans zu skandieren. Man respektierte einander und definierte den öffentlichen Raum nicht anhand der eigenen Prioritäten. Dies war eines der entscheidendsten Ereignisse im Verlauf der gesamten Gezi-Proteste. Die Antikapitalistischen Muslime zeigten, dass Konservativismus – solange er nicht mit der politischen Zentralmacht identisch ist – eine Seite aufweisen kann, die auch den Kapitalismus infrage stellt.

Nun ist es an der Zeit, die Idee des öffentlichen Raums, deren Bedeutung zurzeit allein durch die Regierung und deren Bauprojekte (wie etwa die Moscheen) diktiert wird, neu zu denken und mit neuem Leben zu erfüllen.

Weitere Informationen unter: www.global-activism.de  

Über den Autoren

Korhan Gümüş (*1954) ist Architekt und Stadtplaner. 2010 war er verantwortlich für das Urbanismusprojekt der Stadt Istanbul zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr. Als Mitbegründer der Taksim Plattform setzt er sich für ein demokratisches Mitspracherecht der Bevölkerung bei der Gestaltung des Taksim Platzes ein und war einer der Initiatoren der Proteste im Gezi-Park Ende Mai 2013.

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Anmerkung

Übersetzung aus dem Englischen von Christiansen & Plischke

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