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Svetlana Alexievitch im Gespräch mit Paul Virilio für den Film von Andrei Ujica

Sa, 28.09.2002

© Andrei Ujica
Paul Virilio
Svetlana, Sie sind eine Zeugin der Katastrophe von Tschernobyl. Sie sind unsere Antigone. Das, was 1986 geschah, ist ein vollkommen atypisches Ereignis. Ich werde es nie vergessen.

Svetlana Alexievitch  
Ja, ich bin eine eigenartige Zeugin - eine Zeugin der Vergangenheit oder vielleicht auch der Zukunft. Ich weiß es bis heute nicht.

Paul Virilio
Der Zukunft. Denn die Zukunft sagt etwas über die Zeit aus, und der Unfall von Tschernobyl ist in Wahrheit vor allem ein Unfall der Zeit. Einer der Langzeit, einer astronomisch langen Zeit. Der Zeit der Radionukleide. Und demnach haben wir es durch Ihr Zeugnis mit einem Unfall zu tun, der in räumlicher Hinsicht zwar ein lokaler (Tschernobyl liegt in Russland und mithin eigentlich auch in Europa), in zeitlicher Hinsicht aber ein globaler ist. Er überdauert das Leben von Generationen, er überdauert die Jahrhunderte, und in diesem Sinne ist er ein prophetischer Unfall. Wie sehen Sie das?

Svetlana Alexievitch
Ich denke, Tschernobyl ist ein Sprung in eine völlig neue Realität. Was dort passiert ist, übersteigt nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Vorstellungskraft. Ich war erstaunt, dass alle Leute in den ersten Tagen immer wieder dieselben Sätze sagten und sogar ihr eigenes Leiden vergaßen: Ich habe nirgends darüber gelesen, ich habe es nie im Kino gesehen, niemand hat mir etwas darüber erzählt. Die Menschen fühlten sich wie auf dem Mars: alles war wie vorher, und trotzdem hatte sich die Welt total verändert.

Paul Virilio
Tschernobyl ist ein Ereignis der Zeit, aber auch ein Ereignis der Geschichte. Was Sie schildern, ist in gewisser Weise auch der Bericht einer zukünftigen Geschichte, d.h. einer katastrophischen Geschichte, die nicht mehr nur bloß die Geschichte der Generationen, der Könige, der Kriege oder der großen Feste ist, sondern die der großen Katastrophen. Sie sind die Zeugin eines katastrophischen Auftakts. Und was meiner Meinung nach wirklich sehr schwerwiegend und gleichzeitig verkannt zu sein scheint, ist die Verwechslung von Krieg und Unfall. Sie beziehen sich häufig auf Menschen, die sagen: Wir wissen nicht, ob wir es hier mit einem Krieg oder einem Unfall zu tun haben. Warum sind all die Soldaten hier? Wieso werden wir evakuiert? Wieso die vielen Hubschrauber? Was geht hier vor? Ich meine, dass dies für unsere Zeit, für unsere Generation vielleicht der wichtigste Aspekt ist: die terroristische Verwechslung von Krieg und Unfall.

Svetlana Alexievitch
In den ersten Tagen nach dem Unfall herrschte allgemeine Verwirrung, denn die Verweise auf die Vergangenheit waren überhaupt nicht hilfreich. Unser gesammeltes Wissen vom Schrecken geht natürlich auf den Krieg zurück. Doch in Tschernobyl stand alles in voller Blüte, die Pflanzen wuchsen weiter, die Vögel flogen wie immer, und trotzdem merkten die Menschen, dass der Tod allgegenwärtig war: unsichtbar, unhörbar. Die Menschen merkten, dass sie an diese neue Welt, dieses neue Gesicht des Todes, dieses neue Gesicht des Bösen noch nicht gewöhnt waren. Und diese Verwirrung wirkte lähmend. Ich denke, dass die ungeheuer vielen Panzer und Hubschrauber, die vielen tausend Soldaten die totale Niederlage der Vergangenheit aufzeigten. Die sowjetische Führung handelte gemäß der Logik der Vergangenheit: viel technisches Gerät, viele Soldaten. Aber all diese Mittel konnten nichts bewirken. Dieses Bild des Krieges, diese Kultur des Krieges der Vergangenheit ist vor meinen Augen in sich zusammengefallen. (...)

Fortsetzung siehe »Lettre international«, Heft 60, Berlin, 2003: www.lettre.de
 

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