Giga-Hertz-Preis 2020: Konzert II
Einblick in das Lebenswerk von Alvin Lucier
So, 29.11.2020 16:00 Uhr CET
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Das Giga-Hertz-Preis Festival 2020 schließt mit einer umfangreichen Einblick in das Œuvre des Preisträgers Alvin Lucier ab. Das abschließende Konzert umfasst zwei deutsche Erstaufführungen des Komponisten.
Alvin Lucier ist eine Schlüsselfigur für jeden, der die Entwicklung der Musik von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an bis heute vollständig verstehen möchte. Zusammen mit Robert Ashley, David Behrman und Gordon Mumma mit der »Sonic Arts Union« (aktiv von 1966 bis 1976) gelang es Alvin Lucier, den von der amerikanischen Avantgarde eingeschlagenen Weg, insbesondere jenen von John Cage, fortzusetzen und zu erneuern, indem er die Kompositionstechniken auf Geräte und akustische Phänomene ausweitete und damit den Kompositionsprozess selbst neu gestaltete.
Sein Einfluss auf das musikalische Feld ist zudem fundamental in seiner Lehrtätigkeit, vor allem an der Wesleyan University (1968–2011) und in einigen seiner Schriften. Inspirierend ist auch seine Fähigkeit, diese Neugierde hinsichtlich des Klangphänomens und der Weise, wie wir es als Menschen erfahren, dauerhaft aufrechtzuerhalten – das heißt, die entwaffnende Erfahrung des Menscheins angesichts einer phänomenalen, nicht entschlüsselbaren Welt musikalisch zu erweitern.
Das vielfältige Œuvre von Alvin Lucier wird zunächst durch ein Filmscreening und anschließend durch eine Podiumsdiskussion beleuchtet. Vier Kompositionen aus dem Lebenswerk des Komponisten (darunter zwei deutsche Erstaufführungen) werden im darauffolgenden Konzert dargeboten; zusätzlich wird ein weiteres, als zweitätige Installation aufgebautes Werk des Klangpoeten online erlebbar sein.
Programm
16:00 Uhr | Filmscreening »No Ideas But in Things« von Viola Rusche und Hauke Harder über das Leben und die Arbeit von Alvin Lucier | |
17:45 Uhr | Podiumsgespräch Prof. Ludger Brümmer, Prof. Dr. Rudolf Frisius, Prof. Dr. habil. Sabine Sanio und Julia Gerlach im Gespräch |
19 Uhr – Konzert
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Alvin Lucier »Wave Songs« (1998)
für Sopran und zwei Sinustongeneratoren
Deutsche Erstaufführung. Sopran: Núria Cunillera Salas; Tonmeister: Sebastian Schottke
Alvin Luciers »Wave Songs« sind elf Soli für Frauenstimme und zwei Sinustongeneratoren, die auf Wunsch von Andrea Miller-Killer, Shelly Casto und James Rondeau anlässlich der Ausstellung »MATRIX 135« von Lee Lozano im Wadsworth Atheneum in Hartford, Connecticut geschrieben wurden. Die Partitur wurde für die Komponistin und Sängerin Joan La Barbara geschrieben, die das Werk am 29. März 1998 vor Ort uraufführte. Lucier hat geschrieben, dass er sich »das Werk als Mini-Oper vorstellte, in der Joan die Rolle von Lee Lozano übernimmt, ihre Gemälde ins Leben singt oder vielleicht einfach nur für sich selbst singt, während sie an ihnen arbeitet«.
Luciers »Wave Songs« erinnern an bestimmte objektive Eigenschaften von Lozanos »Wave Series«-Zyklus. Lozanos Gemälde besteht aus elf Leinwänden zu je 96 Zoll Höhe; Luciers Partitur besteht aus elf Soli zu je 96 Sekunden Länge; und beide Künstler greifen auf die verschiedenen Teiler von 96 – 2, 4, 6, 8, 12, 16, 24, 32, 48 und 96 – zurück, um ihre Darlegungen zu strukturieren.
Beispielsweise hören wir im ersten Solo zwei Sinustöne, die im Abstand von 48 Hertz gestimmt sind; der Sänger singt, im Unisono beginnend und endend, eine absteigende Linie, die diesen Raum in Intervalle von acht Hertz unterteilt. In den folgenden Solos nähern sich die beiden Sinustöne einander an, bis sie schließlich fast unison erklingen. Die Sopranistin singt gegen eine oder beide Wellen und erzeugt dadurch hörbare Rhythmen, die die numerologischen Möglichkeiten unterschiedlich ausloten. Während des ganzen Stücks passt sich die Sängerin dem Klang der Sinustöne an, indem er auf den Vokalklang »oo« singt, mit Ausnahme von Solo »X«, das auf einen Text von Lozano zurückgreift.
Autor: Keith Moore
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Alvin Lucier »Music for Cello With One or More Amplified Vases« (1993)
für Cello und mikrophonierte Vasen
Cello: Nathan Watts; Tonmeister: Sebastian Schottke
Auszug aus der Partitur:
»Eine oder mehrere große Vasen werden um den oder die CellistIn herum aufgestellt. In die Mündungen der Vasen werden Mikrofone eingesetzt, die über Verstärker zu Lautsprechern geleitet werden. Im Verlauf der Aufführung streicht der oder die SpielerIn langsam und kontinuierlich den Tonumfang des Cellos ab und sucht in den Vasen nach Resonanzen, die von den Mikrofonen aufgenommen und für die Zuhörer:innen hörbar gemacht werden.
CellistIn:
Beginnen Sie mit dem tiefen C, streichen Sie eine Quinte aufwärts und nehmen Sie sich dafür 2 oder mehr Minuten Zeit. Wenn die Quinte erreicht ist, bewegen Sie den Bogen so sanft wie möglich zur G-Saite und setzen Sie die Aufwärtsbewegung fort. Ähnlich verfahren Sie mit der D- und A-Saite. Halten Sie von Zeit zu Zeit an und erkunden Sie bestimmte Resonanzen, indem Sie die Tonhöhe und Amplitude Ihrer Bogenführung leicht variieren. Überlappungen zwischen dem aufsteigenden Sweep und dem festen Ton der offenen Saite erzeugen hörbare Schläge, die sich bis auf Null verlangsamen, wenn das perfekte Unisono erreicht ist.»Music for Cello With One or More Amplified Vases« wurde von Erika Duke-Kirkpatrick am 13. Februar 1992 im Wires Center in Venice, Kalifornien uraufgeführt. Es wurde von Charles Curtis für Antiopic (Sigma Editions) aufgenommen und von Herrn Curtis mehrfach in den Vereinigten Staaten und Europa aufgeführt.«
– Alvin Lucier
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Alvin Lucier »Music for Piano with One or More Snare Drums« (1990)
für Piano und kleine Trommeln
Deutsche Erstaufführung. Piano: Tayuko Nakao-Seibert; Tonmeister: Sebastian Schottke
»'Music for Piano With One Or More Snare Drum' gehört zu einer Reihe von Werken, die ich für Klavier und resonante Objekte geschrieben habe. In »Music For Piano With Amplified Sonorous Vessels« nehmen Mikrofone, die in kleine Behälter im Inneren des Klaviers eingesetzt sind, Resonanzen auf, die auf die physikalischen Dimensionen der Behälter zurückzuführen sind, und in »Nothing Is Real« sind Fragmente eines Beatles-Songs zu hören, der aus einer Teekanne fließt. In diesem Werk klingen die Töne eines Klaviers in wohlwollender Weise auf kleinen Trommeln, die im ganzen Raum positioniert sind.
Der oder die PianistIn spielt eine Reihe von notierten Tonhöhen in chronologischer Reihenfolge und wiederholt sie in verschiedenen, sich überlappenden Mustern. Dabei reagieren die Trommeln in Abhängigkeit von der Tonhöhe der Klaviertöne, den Resonanzgebieten der Trommeln und ihrer geographischen Lage im Raum.
»Music For Piano With One Or More Snare Drums« wurde für Hildegard Kleeb geschrieben und von ihr am 21. März 1992 in der Galerie Sou-Sol im schweizerischen Genf uraufgeführt.«– Alvin Lucier
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Alvin Lucier »Music for Pure Waves, Bass Drums, and Acoustic Pendulums« (1980)
»Music for Pure Waves, Bass Drums and Acoustic Pendulums« (1980) steht in Luciers Werk an einer Doppelkreuzung. Es kann als Installations- oder Performance-Arbeit realisiert werden; und es ist sowohl der klassische Abschluss einer Periode kompositorischer Tätigkeit, die sich auf konzeptuelle und live-elektronische Musik konzentrierte, als auch der Beginn einer zweiten Phase des Schreibens, die das Potential dieser Anliegen in Gegenwart traditioneller, akustischer Instrumente erforscht.
Lucier beschreibt die Komposition auf diese Weise: »Elektronisch erzeugte Schallwellen regen die Felle von vier großen Basstrommeln an und setzen ultraleichte Pendel in Bewegung, die vor den Trommeln aufgehängt sind. Die Rhythmen, die dabei entstehen, wenn die Spitzen der Pendel auf die Felle der Trommeln schlagen, werden durch die Tonhöhe und die Lautstärke der Wellen, der Längen der Pendel und die Resonanzeigenschaften der Trommeln selbst bestimmt.«
Bei einer Aufführung dreht der Musiker von Hand »die Frequenz-Stimmskala des Oszillators in einem einzigen Aufwärtsgleiten [...] mit mikroskopischer Langsamkeit, um kein mögliches Muster zu verpassen, und mit kontinuierlicher Bewegung, um eine genaue zeitliche Abbildung aller resonanten, mitschwingenden, pendelnden, klanglichen und sichtbaren Phänomene zu ermöglichen.« Für die Installation wird »eine allen Trommeln gemeinsame Resonanzfrequenz« gefunden, so dass »Änderungen der Temperatur, Feuchtigkeit und anderer Umgebungsbedingungen die Spannungen der Felle verändern und dadurch die Pendelbewegung und die daraus resultierenden klanglichen und rhythmischen Manifestationen variieren«.
Autor: Keith Moore
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Alvin Lucier »I Am Sitting in a Room« (1969)
für Stimme und Tonband als 5-kanaliger Live-Mitschnitt des ZKM-Konzertes vom 8. Januar 2000 nach einem Konzept von Johannes Goebel
2000 | Konzept: Johannes Goebel, Mathias Osterwold; Audio networks: Alexander Noelle, Bernhard Sturm; Sound projection: Christian Venghaus, Thomas Sauer.
2020 | Klangregie: Sebastian Schottke»Im Frühjahr 1969 wohnte ich in einer Wohnung in der High Street 454 in Middletown. Es war ein schäbiger Lebensraum, wie ihn Universitäten an Teilzeitdozenten vermieten. Sie hatte einen grünen Zottelteppich, schwere Vorhänge an den Fenstern und einen alten Sessel. Ich erwähne das, weil es sehr viel mit der Akustik des Raumes zu tun hat. Die Küche war mit einer Kanne, einer Pfanne und einer Kaffeetasse ausgestattet. Aber das war OK; ich war allein und ich aß sowieso oft außer Haus.
Eines Abends lieh ich mir von der Musikabteilung zwei Nagra-Tonbandgeräte aus. Sie hatten sie für ethnologische Feldaufnahmen gekauft. Zu dieser Zeit waren Nagra-Geräte die conditio sine qua non der Aufnahmeindustrie. Es waren die besten tragbaren Tonbandgeräte für Film- und Feldaufnahmen. Jeder Hollywood-Western, den Sie jemals gesehen haben, wurde wahrscheinlich mit einem Nagra aufgenommen. Es waren wunderschöne Maschinen. Ich hatte ein Beyer-Mikrofon, einen einzelnen KLH-Lautsprecher und einen Dynaco-Verstärker. Ich stellte das Mikrophon im Wohnzimmer auf, setzte mich in den Sessel und schrieb einen Text auf, der erklärte, was ich vorhatte. Damals gab es eine Werkgattung, bei der der Prozess der Komposition der Inhalt des Werkes war. Ich erinnere mich an eine Tänzerin aus der Judson Church, die ihre Bewegungen beschrieb, während sie sie ausführte. Ich beschloss, dass das Werk keinen poetischen oder ästhetischen Inhalt haben würde. Die Kunst war woanders.
Ich stellte die beiden Maschinen auf einen Tisch vor der Tür, damit die sich drehenden Rollen keinen Lärm machen würden. Ich zog den Stecker des Kühlschranks heraus und drehte die Heizung ab. Ich wartete, bis die Heizkörperrohre abgekühlt waren und der Raum ruhig wurde. Ich wartete bis nach 11 Uhr, bis eine örtliche Bar, »The Three Coins«, schloss. Da es in dieser Nacht schneite, war es draußen relativ ruhig. Es war nicht viel Verkehr im Gange. Ich ging nach draußen in den Flur, schaltete eines der Nagras ein und kehrte ins Wohnzimmer zurück, um den Text in das Mikrofon vorzulesen. Als ich fertig war, ging ich wieder hinaus in den Flur, stoppte die Maschine, spulte das Band zurück und hörte mir die Ergebnisse über Kopfhörer an. Die Pegel auf den Messgeräten waren in Ordnung. Sie hatten nicht den roten Bereich erreicht, der eine Verzerrung angezeigt hätte. Ich übertrug das Band auf das zweite Aufnahmegerät, das durch den Verstärker zum Lautsprecher geleitet wurde, den ich auf dem Stuhl positioniert hatte, auf dem ich gesessen hatte. Ich wollte, dass die Kopie so gut wie möglich wie meine ursprüngliche Rede klingt. Ich wollte, dass es so klingt, als wäre ich persönlich anwesend und würde tatsächlich im Raum sprechen.
Ich ging wieder aus dem Raum heraus und spielte diese Kopie erneut in den Raum hinein und nahm sie auf dem ersten Aufnahmegerät auf. Ich wiederholte diese Prozedur, bis ich sechzehn Versionen hatte, ein Original und fünfzehn Kopien. Ich blieb die ganze Nacht auf, um dies zu tun. Als der Prozess weiterging, kamen immer mehr Resonanzen des Raumes heraus; die Verständlichkeit der Rede verschwand. Die Sprache wurde zu Musik. Es war magisch.
Ich wählte Sprache, um den Raum zu testen, weil er reich an Klängen ist. Sie hat Grundtöne (Formanten) und viele lautes Material – p’s, t’s, s’s, k’s. Es war entscheidend, poetische Anspielungen zu vermeiden – Gedichte, Gebete, alles, was einen hohen ästhetischen Wert hat. Ich hatte das Gefühl, das würde nur im Weg stehen. Ich wollte, dass die akustische Erkundung im Vordergrund steht, dass die Raumakustik und ihre allmähliche Verwandlung den Sinn des Stückes ausmachen.«
– Alvin Lucier