Ingo Günther

Im Bereich der West-Wind-Welt

1991
Artist/s
Ingo Günther
Künstler:in / Künstlergruppe
Ingo Günther
Titel
Im Bereich der West-Wind-Welt
Jahr
1991
Kategorie
Installation
Video
Format
Videoinstallation
Material / Technik
2-Kanal-Videoinstallation ; 2 Flaggen mit Masten, 2 Projektoren, 2 Laserdiscs, 2 Laserdiscplayer, Ventilatoren
Maße / Dauer
400 x 500 x 600 cm, Installationsmaß variabel
Sammlung
ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
Beschreibung
Zwillingsfahnen an ihren Masten werden zueinander geweht. Sie sind an sich keine Flaggen, da ihre Bilder ständig wechseln. Manchmal scheint die eine zur Flagge der USA zu werden, die andere zu jener der ehemaligen UdSSR. Dann wieder zeigen die “falschen Flaggen” die ehemaligen Staatsoberhäupter dieser Nationen oder bestimmte Ereignisse der beiden Länder.
Dieses beeindruckende Werk gedenkt des Schwanengesangs der UdSSR und der Geburt der angeblichen “Neuen Weltordnung”. Derzeit greifen in der Welt zwei gegensätzliche Tendenzen um sich: Globalisierung und Retribalisierung (Betonung der Stammeszugehörigkeit).
Die Frage, welche dieser beiden Kräfte schließlich triumphieren wird, ob sie womöglich gleichzeitig existieren können, werden erst die kommenden Jahre beantworten. Die Antwort wird Einfluss darauf haben, wie die Menschheit zukünftig die Flaggen wahrnimmt, denen sie immer gefolgt ist.
Flaggen bestätigen Menschen in ihrem Status als politische Subjekte, Flaggen definieren Menschen über die Staatswesen, die sie erfinden, Flaggen ziehen Menschen in die Schlacht, wenn diese Staatswesen Krieg führen. Die kontinuierliche Existenz der Flagge steht außer Frage, doch hängt ihr zukünftiges Wesen sehr davon ab, ob es in der Welt zu einer Globalisierung oder Retribalisierung kommen wird.
Beim Wiedererwachen einer tribalisierten Welt fallen der Flagge all die traditionellen Attribute zu, die sie immer gekennzeichnet haben, und sogar noch mehr: Sie ist das höchste kollektive Symbol, die vollkommene und absolute Definition der Stammesgruppe. Nur die Flagge ermöglicht es, sich seine gesamte politische Einheit mit einem Blick oder Gedanken zu vergegenwärtigen. Gilt das Gesagte in Bezug auf eine traditionelle Stammeswelt, so wird es in einer retribalisierten Welt noch betont und hervorgehoben, besonders, wenn diese sich gegen globalisierende Kräfte zur Wehr zu setzen hat.
In einer keimfrei-homogenisierten, konsumentenorientierten globalen Gesellschaft wird die Flagge von einem Symbol zu einem bloßen Zeichen transformiert. Sie mag eine Facette eines komplexen Organismus repräsentieren, doch sie selbst steht tatsächlich für nichts. Womöglich ist sie ein Emblem innerhalb des eigenen (globalisierten) Kontextes, doch niemals eine Ikone. Wiederaufbrechender Nationalismus und internationale Zusammenarbeit: es ließe sich argumentieren, daß die Sowjetunion diesen entgegengesetzten, wechselnd zentripetalen und zentrifugalen Kräften zum Opfer fiel. Lenins abtrünniger Staat ist in zahlreiche Staatswesen zersplittert, damit jedes einzelne, neu gegründet und peinlich genau Umrissen, womöglich besser auf sich gestellt, mit dem neuen Welt
markt interagieren kann. Mit der raschen Rückkehr Osteuropas zu den Paradigmen und Vorurteilen der dreißiger Jahre beginnt es so zu scheinen, als habe der Warschauer Pakt nie existiert, als sei der ganze Abschnitt der sowjetischen Vorherrschaft nur ein kurzes Interregnum in einer viel älteren und komplexeren historischen Epoche gewesen. Auf diese Weise erlangt das Rote Banner mit Hammer und Sichel den gleichen Status im Gedächtnis der Welt wie der doppelköpfige Adler des K. u. K.-Österreichs.
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind, wiewohl noch nicht obsolet, auch nicht länger das Land, das sie zu Zeiten ihrer großen Nemesis waren. Heftige Debatten werden über die Unantastbarkeit des Sternenbanners ausgefochten, und vermochte auch Amerika in seiner Geburtsstunde der Welt zu demonstrieren, daß eine Idee sehr wohl eine Sache sein konnte, scheinen viele der modernen konstituierenden Organe dieses Landes vergessen zu haben, daß eine Sache niemals wirklich eine Idee sein kann. Zunehmend verzweifelt suchen die Amerikaner nach etwas, das ihnen ein Gefühl von Identität vermitteln könnte. Offenbar ist es nicht genug, daß so viele der Prüfsteine der globalisierten Welt amerikanischen Ursprungs sind, was die Vermutung nahelegt: Fast Food und Fast Culture mögen zwar sättigen, müssen jedoch nicht notwendigerweise auch nahrhaft sein. Hollywood ist
das Jerusalem der neuen Weltreligion, doch daß sein Gott ein amerikanisches Antlitz trägt, scheint der Mehrheit der Amerikaner zu entgehen, beschäftigen sich diese doch lieber mit den Vorgängen in ihrem Stadtviertel als mit dem Rest der Welt. Obwohl viele Nationen zum amerikanischen Schmelztiegel beigetragen haben, vollzieht sich die Retribalisierung in den USA offenbar eher in ethnischer und sozio- kultureller Hinsicht als nach dem nationalistischen Modell der Alten Welt. Eine immer spezifischer werdende Zielgruppenausrichtung der Medienmärkte könnte schließlich darin resultieren, aus jedem innerstädtischen Straßenblock und jeder Vorortsstraße eine Nation für sich zu machen.
Bis jetzt steht noch kein neuer Prophet lichtbekrönt und ehrfurchtgebietend auf dem Heiligen Berg der post-postmodernen Welt. Doch die Welt sehnt sich nach Zeichen und Omen. Wird sie sich globalisieren? Wird sie sich retribalisieren? Nimmt sie eine Position zwischen den Extremen ein? Werden beide irgendwie gleichzeitig existieren? Wird ein solcher Kompromiß von heftigen Konflikten begleitet sein? Die Welt ist gespannt. Und in der Zwischenzeit kann sie ein Kunstwerk wie Ingo Günthers betrachten und dabei den Niedergang einer Ära sowie den ungewissen Neubeginn einer neuen markieren. [1993]

Autor

Peter “Blackhawk”
von Brandenburg

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