Johan Grimonprez. All Memory Is Theft
Sa, 07.06.2025 – So, 08.02.2026
- Ort
- Lichthof 8+9
- Kosten
- Museumseintritt
Mit »All Memory Is Theft« präsentiert das ZKM eine umfassende Retrospektive des belgischen Medienkünstlers Johan Grimonprez (*1962), dessen Werk sich an der Grenze zwischen Theorie und Praxis, Kunst und Film bewegt und jenseits der Dualismen von Dokumentation und Fiktion, dem Selbst und dem Anderem, dem Mentalen und Physischen eine Vielzahl von Wirklichkeiten betont.
„Wem gehört unsere Fantasie in einer Welt, in der die Existenz ins Wanken gerät, und die Wahrheit als schiffbrüchig Geflüchtete umherirrt?“ ist eine der zentralen Fragestellungen für Johan Grimonprez: „Sind es nicht die Geschichtenerzähler:innen, die Widersprüche in Schach halten können, indem sie zwischen die uns gegebenen Sprachen schlüpfen und zu Zeitreisenden der Imagination werden?“
Basierend auf einer Archäologie der heutigen Medienlandschaft erzählt Grimonprez‘ Werk persönliche Geschichten, die sich mit dem großen Ganzen der globalen Technokratie vermischen und so unsere kollektive Vorstellungskraft, die von allgegenwärtigen Profitinteressen der Tech-Branche beherrscht wird, infrage stellen. Statt glückliche Verbraucher sind wir als digitale Flaneure bereitwillige Konsumenten einer Angst-Industrie geworden. Paranoia, die neue Normalität, macht es einfacher, angesichts der Herausforderungen unserer Zeit an das Ende der Welt zu denken, als sich politische Alternativen der gesellschaftlichen Transformation vorzustellen.
„Wir trauern um eine verlorene Zukunft,“ schreibt Autor und Aktivist Max Haiven in seinem Buch »Crisis of Imagination. Crisis of Power« (2014) [Krise der Vorstellungskraft. Krise der Macht]: „Nicht um das, was war, sondern um das, was sein könnte.“ In Grimonprez‘ Werk dienen Geschichte und Erinnerung nicht bloß als Mittler der Vergangenheit, sondern als Werkzeug, um mit der Gegenwart umzugehen und dadurch eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Erinnerung ist schließlich eine Form des kollektiven Geschichtenerzählens; der Schauplatz ideologischer Kämpfe, an dem wir unsere vergessenen Träume zurückerobern. Der Autor James Baldwin schrieb einst: „Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit, sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte in uns, wir sind unsere Geschichte.“ In Lewis Carrols Buch »Alice im Wunderland« (1865) konfrontiert die Königin Alice mit einem ähnlichen Gedanken: „Das ist ein armseliges Gedächtnis, das nur rückwärts funktioniert.“
Die Ausstellung »All Memory Is Theft« am ZKM präsentiert eine vielschichtige intertextuelle Reise durch die letzten 35 Jahre von Johan Grimonprez‘ Schaffen. Sie umfasst interaktive Installationen, Lang- und nie zuvor veröffentlichte Kurzfilme, Storyboards, skurrile Archivquellen, literarische Textbausteine, Fotografien und eine kürzlich entstandene Reihe von Zeichnungen. Die als sich ständig erweiternder Vlog konzipierte Ausstellung lädt das Publikum auf eine Entdeckungsreise durch ein raumfüllendes künstlerisches Skizzenbuch voller Geschichten ein, die unseren unersättlichen Medienkonsum nicht reproduzieren, sondern durchbrechen, hinterfragen und aufhalten wollen. Als Kind einer vergangenen Ära des Fernsehens nimmt Grimonprez uns mit auf eine Achterbahnfahrt durch ein Universum im Umbruch, in dem Geschichte und Vorstellung, Träume und das handfest Greifbare mit CNN und Hollywood, Amateurfilmen und ChatGPT als Zugangscode zu unserer Wirklichkeit verwoben sind.
Die Ausstellung spannt den Bogen von Frühwerken wie »Kobarweng or Where is your Helicopter« (1992), in dem die Erinnerung an eine Kolonialvergangenheit im Rahmen der globalen Ausbeutungswirtschaft aufgearbeitet wird, über Grimonprez‘ Beitrag zur documenta X »dial H-I-S-T-O-R-Y« (1997), seine Untersuchung von Doppelgängern in »Looking for Alfred« (2005) und »Double Take (2009) und die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Krieg, Medien und dem internationalen Waffenhandel in »every day words disappear« (2016) und »Blue Orchids« (2017) bis hin zu seinem neuesten Film »Soundtrack to a Coup d‘État« (2024). Der als bester Dokumentarfilm Oscar®-nominierte und vom ZKM koproduzierte Film erzählt die Geschichte der kongolesischen Unabhängigkeit von der belgischen Kolonialmacht im Jahr 1960 und der anschließenden Ermordung des ersten demokratisch gewählten Premierministers Patrice Lumumba und zeichnet die Verbindungen zwischen Jazz, Geopolitik und kolonialen Machtverhältnissen während des Kalten Krieges nach.
Unterhalb eines fallenden Hauses in der Mitte des Lichthofes setzt die neu entwickelte Installation »Maybe the sky is really green, and we’re just colorblind« (2011 bis heute) die historische Praxis des Channel Surfing mit der Entstehung von Fertiggerichten (engl. TV-Dinner) und der Werbepause in Verbindung. In Form eines Vlogs enthüllt die Installation, wie Science Fiction und das Konzept des Zappens in Zeiten der exponentiellen Verbreitung von künstlicher Intelligenz Begegnungen mit imaginären und nichtimaginären Entitäten hervorbringt.
In Anlehnung an den französischen Philosophen und Medientheoretiker Paul Virilio stellt Grimonprez fest, dass jede Technologie ihren eigenen Unfall hervorbringt: „Mit dem Schiff hat man den Schiffbruch erfunden; mit dem Fliegen den Flugzeugabsturz.“ Man könnte hinzufügen, dass mit der Künstlichen Intelligenz auch die Realität und damit unser Bewusstsein verunfallt wurde. Medien müssen heute nicht mehr mit der Realität Schritt halten; stattdessen muss die Realität mit den Medien Schritt halten.
Impressum
Kuratoren: Daniel Pies, Philipp Ziegler
Projektproduzent und Editor für zap-o-matik: Pedro Gossler
Projektassistenz: Yuliana Mosheeva
Szenographie: Matthias Gommel
Technische Projektmanagement: Felix Pausch
Reparatur historischer Fernsehgeräte: Colorvac, Friedrich Sambs
Registrarin: Regina Linder
Kommunikation: Marlen Ernst, Sabine Jäger, Franziska Klöck, Sebastian Klein
Grafikdesign: 2xGoldstein
Übersetzung: Dan Lawler
Besonderer Dank an: den Künstler; Galerie Anita Beckers, Frankfurt/Main; Kristof De Clercq Gallery, Gent; Sean Kelly Gallery, New York; sowie das gesamte Team des ZKM.
Weitere Informationen zum Künstler unter www.johangrimonprez.be
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Mit Unterstützung durch
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Vlogs wurden ermöglicht durch
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