Was tun mit Bildern?
Die Renaissance des Bildhistorikers Aby Warburg
Walter Benjamin nannte ihn den »grandseigneuralen Gelehrten«: den interdisziplinären Denker und Wissenschaftler Aby Warburg. Insbesondere in den vergangen Jahren rückt die Bedeutung Warburgs wieder stärker in den Fokus. Seine Schriften werden neu gelesen und interpretiert.
VON MARC PESCHKE
Der 1866 geborene Hamburger Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg, „Jude von Geburt, Hamburger im Herzen, im Geiste Florentiner“ (Warburg über sich selbst), gibt bis heute Auskunft darüber, wie wir Bilder lesen können. »Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?« nannte sich eine Ausstellung, die von 2012 bis 2013 im Museum für Gegenwartskunst in Siegen zu sehen war.
Warburgs große wissenschaftliche Frage galt dem Einfluss der Antike auf die europäische Kultur. In Florenz studierte er die Kunst der Renaissance, die Nymphen-Darstellungen von Botticelli etwa, in Amerika den Schlangentanz der Pueblo-Indianer, wo er Gemeinsames findet, nämlich einen »Denkraum der Besonnenheit«. Doch er bleibt nicht bei dem, was er vor sich sieht. Die Volkskunde, die Kunstpsychologie, die Ethnologie, die Anthropologie – all das rückt in der Forschung Warburgs ganz eng zusammen.
Bilderatlas »Mnemosyne«
Als Aby Warburgs Lebenswerk kennen wir die zwischen 1925 bis zu seinem Tod 1929 in Hamburg aufgebaute und 1933 nach London übersiedelte Bibliothek, in der Warburg den Bilderatlas »Mnemosyne« zusammengetragen hat. Im Eingangsbereich der Bibliothek verweist die griechische Inschrift »Mnemosyne« an die Göttin der Erinnerung. An diesem Bilderatlas – einem über Jahre entstandenen, immer neu konfigurierten work in progress – wird das Denken Warburgs, sein Umgang mit Bildern, exemplarisch deutlich. Das 63teilige Werk – heute als Fotodokumentation und als Rekonstruktion erhalten – ist eine Zusammenstellung von sinnträchtigen Bildern aus der Kunst- und Kulturgeschichte, die eine Art kulturelles Bildgedächtnis darstellen.Erst in den vergangenen Jahren ist diese imposante, fragmentarische Zusammenstellung wieder Thema verschiedener Veröffentlichungen gewesen. Neue Bücher beschäftigten sich zudem etwa mit Warburgs Krankengeschichte als Patient im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, wo er nach einem psychotischen Zusammenbruch von 1919 bis 1924 behandelt wurde. Eine ganze Reihe exzellenter Warburg-Bücher ist erschienen, darunter etwa auch ein Werk über die Italienreise von Aby Warburg und seiner Assistentin Gertrud Bing. Auch Warburgs Verhältnis zu anderen Denkern wie Ernst Cassirer und Albert Einstein war Thema der neuen Literatur – oder die Rolle Fritz Saxls, der Aby Warburgs Bibliothekar und später Direktor des Londoner Warburg-Institutes war.
»iconic turn«
Nach einigen Jahren relativer Stille – 1979 war Ernst Gombrichs große Warburg-Biografie erschienen – findet seit etwa 20 Jahren eine ständige Wiederentdeckung Warburgs in Form von Ausstellungen, Vorträgen oder diversen Publikationen statt. Diese Renaissance von Warburg und des Mnemosyne-Atlas steht in einem direkten Zusammenhang mit dem »iconic turn« seit den neunziger Jahren – der neuerlichen Hinwendung zu einer an der Ikonologie geschulten Bildwissenschaft, die Methoden ganz unterschiedlicher Disziplinen zusammenbringt.
Verbunden mit dem Begriff des »iconic turn« ist die Vorstellung von einer in den vergangenen Jahren immens gewachsenen Macht, Bedeutung und Allgegenwart der Bilder und der visuellen Kommunikation im digitalen Zeitalter. Warburgs interdisziplinäre Methode, die nicht streng zwischen Geistes- und Naturwissenschaften trennt, nimmt die Forderung nach einer neuen, vielfältigeren Bildwissenschaft, wie sie heute immer wieder artikuliert wird, um Dekaden vorweg.
Warburg wird heute als Vorreiter des »iconic turn« wahrgenommen, als Vertreter und Begründer einer ikonologischen Kunstbetrachtung. „An seinen Namen knüpfen sich Hoffnungen, aus Sackgassen spezialistischer Interessen und intellektueller Moden herauszufinden“, schreibt Roland Kany schon 1999 in der F.A.Z. „Für Warburg sind Bilder vielschichtige Medien des Gedächtnisses“, so führt der Autor weiter aus – und betont die brisante Modernität des Kunstwissenschaftlers, der erkannt hat, dass Kultur auf Erinnerungsvermögen fußt.
Nicht Kunsthistoriker, sondern »Bildhistoriker«
Wenn Warburg 1917 notiert, dass er kein Kunsthistoriker, sondern »Bildhistoriker« sei, dann klingt das noch heute ungemein modern und attraktiv. In Zeiten stetig wachsender digitaler Bildarchive fasziniert Warburgs Mnemosyne-Atlas nicht nur Kulturwissenschaftler, sondern auch Künstler, wie etwa die Hamburger Künstlergruppe des »8. Salon«, die sich dem Werk Warburgs auf vielfältige Weise genähert hat.
Besonders bedeutsam – und aktuell – ist vor allem die Tatsache, dass das Ordnungsprinzip in Warburgs Bilderatlas nicht auf visuellen Ähnlichkeiten beruht, sondern auf, wie es Warburg nennt, „verwandtschaftlichen“ Beziehungen. In seinem Bilderatlas finden wir Abbildungen von Kunstwerken genauso wie Reproduktionen von Briefmarken, Werbefotos, Modefotografien – oder auch Pressebilder.
Ein Geflecht von Bildern, „Suchbewegungen eines Metaphysikers, der zum Urgrund aller Bilder strebte“, wie Wolfgang Ullrich 2013 in »Die Zeit« schreibt, um zum Schluss zu kommen: „Es ist das Essayistische, weniger das Metaphysische, was Warburg heute attraktiv macht.“ „In einer Zeit“, so Ullrich weiter, „in der es in der Kunst üblich geworden ist, mit unterschiedlichstem, oft gefundenem Material zu operieren, liefert er das Paradigma dafür, wie sich mit Bildern in großer Anzahl und höchst diverser Art und Herkunft umgehen lässt.“
Und so könnte Warburgs Bilderatlas heute durchaus als Werk der zeitgenössischen Kunst rezipiert werden: in seiner Skizzenhaftigkeit, in dem Verzicht darauf, ein fertiges Ganzes präsentieren zu wollen, in der so unterschiedlichen Provenienz der gesammelten Bilder. In den vergangen Jahren sind auffällig viele Fotokunstbücher erschienen, die auf eine ähnliche Weise unterschiedliche Bilder zusammenführen. Doch Gewährsleute für diese Methode neuartiger Kombinatorik fand Warburg schon unter seinen Zeitgenossen. Vor allem die surrealistische Gruppe war es, welche die Re- und Neukombination von Bildern zu einem bevorzugten Stilmittel erkoren hatte.
Über den Autor
Marc Peschke lebt in Wertheim am Main und Hamburg. Er ist tätig als Kunsthistoriker, Texter und Fotokünstler.
Aby Warburg. Mnemosyne Bilderatlas
Rekonstruktion – Kommentar – Aktualisierung
01.09.2016 – 13.11.2016
ZKM_Lichthof 1+2
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