ars viva 00/01 (Eröffnung)
Kunst und Wissenschaft
Fr, 18.05.2001 20:00 Uhr CEST, Eröffnung

„Kunst ist das einzige, was Menschen übrig bleibt, die der Wissenschaft nicht das letzte Wort überlassen wollen.“
 
Dieser Ausspruch Marcel Duchamps trägt einen »Erlösungsgedanken« in sich, der für das heutige Verhältnis von Kunst und Wissenschaft sicherlich keine ungebrochene Gültigkeit hat. Weder beansprucht die Kunst, ihrerseits das letzte Wort zu haben, noch lehnt die Wissenschaft ab, sich von künstlerischen Vorgehensweise anregen zu lassen. Eine wichtige Aufgabe der Kunst ist es allerdings nach wie vor, Entwicklungen in der Wissenschaft wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen kritisch zu verfolgen. Bei der »ars viva 00/01 - Kunst und Wissenschaft« werden vor allem Künstler vorgestellt, die sich in ihrer Arbeit mit dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft beschäftigen.
 
Hörner & Antlfinger untersuchen Prozesse medialen Wandels. Im Mittelpunkt ihrer Analysen stehen Veränderungen des Arbeitsbegriffs und der Kommunikation unter dem Einfluss der Computertechnologien. Sie verbinden medientheoretische Ansätze mit digitalem Know-how und plazieren ihre Überlegungen in gestalterisch »analogen«, häufig der Kindheit entlehnten Bildwelten: in der Installation »Schneewittchen und Zwerge« zum Beispiel wird das Verhältnis von Kunst und elektronischen Medien thematisiert. Ein von Hörner & Antlfinger sorgfältigst geschneidertes Schneewittchen gewährt den sieben Zwergen, die auf antiquierten Monitoren leben, unter seinem Gewand großzügig Unterschlupf. Die Zwerge erweisen sich als Personifikation der »artes liberales«: auf Knopfdruck demonstrieren sie ihre Kompetenzen und empfehlen sich als digital reformierbare Wesen. Auch die im Rahmen der »ars viva« entworfene Arbeit »I want to Believe. Gebirgszelt mit schlafendem Yeti« spitzt die Verbindung von medientheoretischen und humoristisch-fiktionalen Strängen zu: Hörner & Antlfinger richten hier einen Meditationsraum für Avatare ein. Die bei Internet-Chats zugelegten fiktiven Identitäten führen - einmal zum Leben erweckt - bei Hörner & Antlfinger ihre Existenz im Netz unabhängig fort. Als Ausgleich für die von Chats überstrapazierten Avatare initiieren sie einen Ort, an dem geschwiegen werden darf.
 
Christoph Keller arbeitet mit unterschiedlichen Medien in verschiedenen Zusammenhängen. Dennoch ist sein primäres Bezugssystem die Kunst; 1993 entwickelte Christoph Keller eine Spiegelkonstruktion, die Sonnenlicht in verschattete Hinterhöfe projiziert. Der Sonnenspiegel, der Ähnlichkeit mit einer Satellitenschüssel hat, richtet sich nach dem Lauf der Sonne aus und projiziert ihre Strahlen auf einen immer gleichen Punkt. 1995 meldete Christoph Keller für seine Konstruktion ein Patent an. Auf diese Weise gab er seinem Projekt eine juristische Realität und machte somit deutlich, dass er sich nicht auf den Topos der Künstler-Utopie beschränken will. In mehreren Arbeiten beschäftigt sich Christoph Keller mit Archiven. In seiner Arbeit »medfilm - eine filmische Geschichte der Charité 1900-1990« untersuchte er medizinische Lehrfilme, die im Verlauf des Jahrhunderts an der Charité entstanden sind. Im »ars viva-Katalog« zeigt er die zum Teil daran anknüpfende Arbeit »Lost/Unfound: Archives as Objects as Monuments«. In einer Art assoziativem Lexikon thematisiert er geistesgeschichtliche und ideologische Implikationen des Umgangs mit dem dokumentarischen Bild. Sein Alphabet umfasst Begriffe von Animation über Genom bis Zoo und Zufall. Das lexikalische Versprechen der Begriffsklärung wird bewusst nicht eingelöst. Die Begriffe bilden Überschriften für die assoziative Zusammenstellung unterschiedlichster Quellen. Stills aus Dokumentarfilmen werden kombiniert mit Bildern von Archiv-Architekturen, geschichtsphilosophische Zitate mit Interview-Fragmenten. Der aufsteigend alphabetischen Reihenfolge wird eine absteigend chronologische Ordnung der Filmdokumente entgegengesetzt. In diesem strengen formalen Raster formiert sich das Material zu einem einzigen Denkraum.
 
Natascha Sadr Haghighians künstlerische Praxis ist formal und stilistisch schwer einzugrenzen: ihr »Repertoire« umfasst Videos und Performances genauso wie (Klang-)Installationen, CD-ROMs, Comics, Computer-Animationen und Dokumentarfilme. Ihr wiederholt angewandtes Prinzip ist das Einnehmen und Herausheben unterschiedlicher Betrachterstandpunkte. Sie zerlegt Bildzusammenhänge, fokussiert einzelne Elemente, legt Bildachsen frei und versucht dabei, die Bedingungen des Zustandekommens des Bildmaterials mitaufzuzeigen. Häufig rekombiniert sie das so gewonnene Material und schafft Überlagerungen. Dieses Vorgehen gilt nicht nur für die visuelle Ebene: Im Rahmen der Ausstellung »La Ville, la Mémoire, le Jardin« schuf sie im Garten der Villa Medici eine Klanginstallation. Sie nahm die nächtliche Geräuschkulisse des Parks auf, um ausgewählte Fragmente über Lautsprecher, die fast unbemerkt in den Bäumen hingen, tagsüber abzuspielen. Diese subtile Intervention führte zu einer deutlich spürbaren Realitätsverschiebung. Für die künstlerische Praxis von Natascha Sadr Haghighian ist es nicht überraschend, dass sie die Präsentation vor der Jury des Kulturkreises gleich als einen Teil eines künstlerischen Projektes inszenierte - denn die eigene Identität wird bei ihr häufig explizit zu künstlerischem Material.
 
Jeanette Schulz beschäftigt sich mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Seit 1995 arbeitet sie eng mit Wissenschaftlern aus den Gebieten Entwicklungsbiologie, Neurophysiologie und Emotionsforschung zusammen. Ihre Forschungserkenntnisse überträgt sie in großformatige Schautafeln, Comics und Zeichnungen. Die »Theoretischen Objekte«, mit denen sie komplexe Denkmodelle teilweise sehr humorvoll visualisiert, finden auch in der Lehre und im direkten Kontakt mit Patienten Anwendung. In vielen ihrer Arbeiten entsteht das, was sie wiederum in einer eigenen Arbeit als »Loop« bezeichnet: der Rückverweis einer künstlerischen Formulierung auf ihren eigenen kognitiven Entstehungsprozess; eine Arbeit verweist auf ein kognitives Phänomen, das in der Darstellung des Phänomens selbst wiederum nachvollzogen wird. Der Verweis ist in Jeanette Schulz' Arbeit überhaupt ein wichtiges Prinzip: viele ihrer Arbeiten durchlaufen die unterschiedlichsten Stadien. Häufig ist der Ausgangspunkt eine Mnemoskizze, die dann zu einem Comic, einem »Theoretischen Objekt« ausgearbeitet wird, wovon wiederum möglicherweise Trainingsmaterial für den therapeutischen Einsatz abgeleitet wird. Dieses Prinzip wird im Katalogbeitrag von Jeanette Schulz, für den der Designer Walter Pamminger ein graphisches Konzept entwickelt hat, veranschaulicht: er hebt die Linearität, der ein Buch für gewöhnlich unterworfen ist, auf zugunsten eines »freien Navigierens« über ein verzweigtes Assoziationsfeld.

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