Eine Geschichte von Betonungen und Auslassungen?
Koloniale Spuren in Kultureinrichtungen
Fr, 19.10.2018 10:15 – 16:00 Uhr CEST
Im Rahmen des Landesprogramms »Interkulturelle Qualifizierung vor Ort« lädt das Forum der Kulturen Stuttgart e.V. im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg zu einer Workshopreihe ein. Die Workshops richten sich an KünstlerInnen, MitarbeiterInnen aus Kultureinrichtungen und Kulturämtern in Baden-Württemberg. Neben dem inhaltlichen Input dienen die Workshops auch dem Austausch und der Vernetzung der anwesenden TeilnehmerInnen.
Wenn man eine Momentaufnahme des gegenwärtigen Zustands einer Gesellschaft haben will, kann ein Blick auf Kultureinrichtungen eine wichtige Rolle einnehmen. Dies gilt umso mehr, desto breiter das Publikum der jeweiligen Institution ist. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass »Gesellschaft« nicht automatisch alle Gruppen umfasst. Besonders marginalisierte Gruppen werden ggf. durch diese Momentaufnahme nicht erfasst.
Ob es beispielsweise um die Darstellung von (Welt-) Geschichte oder um Kunst geht – allein die Frage, welcher Sachverhalt, welches (Kunst-) Objekt etc. in welchem Kontext behandelt wird bzw. welchen Raum bekommt, stellt an sich schon eine Interpretation dar. Interpretationen sind zwar unvermeidbar; es muss selbstredend ein Konzept, ein »roter Faden« vorhanden sein, um eine Sammlung von Informationen und Objekten als sinnvoll geordnet und nicht wahllos erscheinen zu lassen. Interpretationen können aber per se nie den Anspruch auf Objektivität erheben. Im Gegensatz etwa zu Naturwissenschaften kann Objektivität »nur« ein Ziel bleiben, dem man sich nach besten Wissen und Gewissen annähern kann. Denn die Frage, wer konkret Kultur und Geschichte wie einordnet, hängt trotz aller Versuche der Wahrung von Objektivität immer auch von der Herkunft, dem Geschlecht, der persönlichen Sozialisation etc. der interpretierenden Person ab.
Nun kann Kultur niemals als ein von politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Geschichte entkoppelter Bereich betrachtet werden: Wer bestimmt, was Kultur ist und ob es sich beispielsweise um eine eher »niedere« oder »höhere« Kultur handelt, ist auch vom Besitz struktureller Macht abhängig. Und hier sind wir bei den in der Überschrift erwähnten »Betonungen« und »Auslassungen« (W.E.B. Du Bois, 1868-1963): Welche historischen bzw. kulturellen Errungenschaften heute Erwähnung finden – und zwar über den eigenen Kulturkreis hinaus – und welche nicht, ist nicht zuletzt das Resultat eines der größten Umverteilungsprozesse in der Menschheitsgeschichte. Dieser Umverteilungsprozess, der den Beginn der sogenannten Neuzeit einleitete, ist maßgeblich für die Entstehung des Westens verantwortlich. Die christlich-abendländisch dominierte Welt, die erst wieder jüngst ernsthafte Konkurrenz bekommt, häufte aber nicht nur politische, ökonomische und militärische Macht an, sondern auch die Macht bzw. zum Teil sogar das Monopol auf die (offizielle) Wissensproduktion. Letztere kann auch die Selbstverortung sowohl der Gesellschaft als Ganzes als auch von marginalisierten Gruppen erheblich beeinflussen.
Der Workshop will diese oftmals ausgeblendete Geschichte behandeln und aufzeigen, welche Relevanz sie für die Gegenwart hat.
Zudem soll am Beispiel von Objekten, die auf Grundlage ungleicher Machtverhältnisse in (neo)kolonialen Kontexten »erworben« worden sind und die heute zum Teil als »Raubkunst« bezeichnet werden, erörtert werden, ob auch und gerade Kultureinrichtungen bereits aus der Geschichte gelernt haben und wo noch Handlungsbedarf besteht. Dies ist umso wichtiger, je sichtbarer in ganz Europa wieder eine xenophobe Politik gesellschaftsfähiger werden zu scheint. Kultureinrichtungen werden davon auf lange Sicht nicht unberührt bleiben können.
Referent:
Serge Palasie ist Afrikanist und befasst sich u.a. mit der Entstehung des transatlantischen Raums und der damit verbundenen Geschichte von Sklavenhandel und Kolonialismus. Seit 2011 ist er Eine-Welt-Promotor (Eine Welt Netz NRW).